Glückwunsch! Sie haben gewonnen!

Der alltägliche Betrug über Telefon und Briefkasten. Die Opfer sind vor allem Rentner

  • Peter Kirschey
  • Lesedauer: 6 Min.
Glückwunsch! Sie haben gewonnen!

Sie hat es nicht mehr geschafft. Einen Tag vor ihrem 81. Geburtstag starb Margarete Krug aus Berlin-Prenzlauer Berg (Name geändert). Die Ärzte konnten nichts mehr für sie tun, nachdem sie drei Tage zuvor an einer Gehirnblutung ins Koma gefallen war. Geschwächt war sie, doch hatte sie ihren 81. Ehrentag unbedingt im Kreise ihrer Familie feiern wollen. Eine Speisekarte hatte sie vorgeschlagen, gemeinsam ins Grüne zu fahren. Es sollte nicht sein.

Die letzten zehn Tage vor ihrem Tod nahmen ihr die Lebenskraft. Da stellte sie fest: Sie ist verschuldet. Den letzten Monat ihres Lebens schloss sie mit einem Minus von 500 Euro ab. Ihre Einnahmen und Ausgaben waren eigentlich überschaubar. Mehr als 1300 Euro Rente. Damit lag sie im Vergleich zu vielen anderen gut. Die festen Ausgaben wie Miete, Telefon, zwei Zeitungen und ein monatlicher Beitrag für die Volkssolidarität beliefen sich zusammen auf rund 630 Euro. Es blieben immer noch rund 670 Euro für den Lebensunterhalt. Ausreichend für eine Rentnerin ohne besondere Ansprüche. Doch in letzter Zeit hatte sie am Ende eines jeden Monats immer mehr ausgegeben, als sie Rente bekam. Da sie die Kontoauszüge nicht mehr las, bemerkte sie auch nicht, wie das Minus immer größer wurde.

Frau Krug war eigentlich eine Person, die jeden Cent dreimal umdrehte, bevor sie ihn ausgab. »Wozu Geld ausgeben für teure Sachen«, sagte sie immer wieder, »mir reicht, was ich habe.« In Rechtsfragen sei sie fit, davon war sie überzeugt, Betrüger hätten bei ihr keine Chance. Im Kapitalismus angekommen, ließ sie sich einen gigantischen Schlossriegel einbauen.

Sie war zwar misstrauisch gegen viele und vieles, doch sie hatte es nicht gelernt, misstrauisch genug zu sein. Misstrauisch gegen freundliche Damen und Herren, misstrauisch gegen Supersonderangebote, misstrauisch gegen angenehme Stimmen am Telefon, misstrauisch gegen garantierte Gewinne. Im Kapitalismus muss man misstrauisch sein. Der Mensch im Kapitalismus braucht einen Steuerberater und einen Rechtsanwalt und Boxhandschuhe, sagte sie anderen. Sie selbst, davon war sie überzeugt, hat so etwas nicht nötig.

Zehn Tage vor ihrem Tod stand Margarete Krug, die seit Jahrzehnten allein lebte, vor einem finanziellen Scherbenhaufen. Was war geschehen? Die Seniorin, von Zuckerkrankheit und Gedächtnisverlust gezeichnet, wusste nicht mehr, wie alles gekommen war. Sagte sie. Vielleicht verweigerte sie sich aber auch der Wahrheit, dass sie sich seit Jahren von dubiosen Geschäftemachern betrügen ließ. In ihrer Wohnung stapelten sich zwei bis drei Kilo Gewinnversprechen, in allen Farben und Größen. An Frechheit und Absurdität kaum zu überbieten.

Da gibt es die »Preisrichter«, einen »Gewinnbevollmächtigten«, eine »Meldepflicht« einen »Rechts- beauftragten« oder eine »Gewinnjury«. Das Rechtsbüro von Mag. J.E. Scholl schreibt in einer »dringenden Rechtssache«: »Die Zuerkennung Ihres 60 000 Gewinnguthabens ist bestätigt!« Das »Referat für Wettbewerb und Gewinnspiele« des Herren Friedrich Müller schickt ein »Vertrauliches Original-Dokument« über eine Gewinnanwartschaft von 20 000. Die »Gewinnvollzugsstelle« des Herren Friedrich Müller aus Wien, von dem »Vollzugsorgan Hubert Einfalt«, schickt einen »Vollzugsbescheid« über 30 000. Der »1. Sekretär der Gewinnerkommission«, Friedrich Müller aus Wien, schreibt an den 1. Sekretär der Gewinnerkommission einen Brief und teilt dies Frau Krug mit: »Sehr geehrter Herr Erster Sekretär, ich verfüge als Vorsitzender der Gewinnerkommission, das der Reisepreis in die Türkei für Frau Krug nicht – ich betone nicht – in Frage kommt. Gemäß unseren Aufzeichnungen wünscht Frau Krug keinesfalls eine Reise für zwei Personen in die Türkei. Dieser Gewinn ist jedenfalls auszuschließen für Frau Krug«. Stattdessen müsse sie mit einer Barzahlung von 50 000 vorlieb nehmen. Dieser »Friedrich Müller« ist der Einfallsreichste. Über 100 Briefvarianten schickt er an seine Opfer, die dann glauben, immer von einem anderen Füllhorn bedient zu werden. Die Zahlkarte über 50 Euro liegt immer dabei. »Nützen Sie meine Empfehlung und zahlen Sie beiliegenden Überweisungsschein noch heute ein!«

Neben den »Gewinnen« ein zweiter Briefstapel. Mahnungen, Auforderungen über Zahlungen, Androhungen von Sanktionen. »Von unserer Lieferung der Tigerkrallen-Salbe steht noch ein Betrag von 36,50 Euro aus. Mit Mahn- und Bearbeitungsgebühren sind das 119,50 Euro. Bitte überweisen Sie den Betrag umgehend ...« Der Gerichtsvollzieher kündigte sich mehrmals an. Weil bei Frau Krug nichts zu holen war, ging er wieder.

Ihre Kontoauszüge geben Auskunft, wohin ihre Gelder seit mehr als vier Jahren geflossen sind: »Glücksoase« 93,90 Euro, »Deutsche Superchance« 79,80 Euro, »Europa Chance« 108,00 Euro, »Rundfunkgebührenabwicklung« 53,94 Euro, »Gemeinsam gegen Werbung« 3,99 Euro. Eine Kette ohne Ende. Hin und wieder wechseln Betrüger die Namen, tauchen unter, um unter neuer Bezeichnung weiter zu kassieren. Eines haben alle Abkassierer gemeinsam. Es gibt keine Adressen, keine Telefonnummern oder Ansprechpartner. Nur Postfächer. Etwas Schriftliches, ein Vertrag etwa, liegt nicht vor. So sind die Gangster vom Telefon einfach nicht zu packen.

Das Unglück kam schleichend. Irgendwann einmal wird sie ihre Daten preisgegeben haben. Scheibchenweise bot sie Angriffsflächen, ahnte nicht, dass ihre Angaben auch weiterverkauft werden, Betrüger Namen und Firmenerfindungen wie schmutzige Hemden wechseln. Das alles wollte sie auch nicht wissen. Anfangs, 2003, notierte sie die Abbuchungen, unterstrich die Daten auf den Kontoauszügen. Nach und nach erlahmte ihr Scharfblick. So etwas merken Täter. Sie riechen es förmlich durchs Telefon, wenn sich einer nicht mehr wehren kann. Ihr Briefkasten schien Betrüger magisch anzuziehen. Bis zu fünf Schreiben täglich mit den abenteuerlichsten Gewinnversprechen, anbei eine Zahlkarte. Zwischen dem 5. Januar und dem 20. April trafen bei ihr Gewinnversprechen in einer Gesamthöhe von 3 270 900 Euro ein.

Warum gerade sie? Oma Krug zuckte stets mit den Schultern. »Ick weeß nich.« Der Terror nahm kein Ende. Fast jede Stunde klingelte das Telefon. Nur mit Frau Krug persönlich wollten die Damen und Herren sprechen. Fragte man zurück, wer da so dringend Frau Krug sprechen wolle, dann legte der andere schnell auf, wissen die Pfleger zu berichten, die sie in den letzten Monaten betreut haben. Wer am anderen Ende der Leitung sein könnte? Die Seniorin zuckte nur mit den Schultern. »Ick weeß nich.«

Das Polizeirevier in der Brunnenstraße in Prenzlauer Berg nahm die Anzeige des Pflegepersonals unter der Rubrik »sonstiger Betrug« ordnungsgemäß auf. Auf dem Vordruck eine Vorgangsnummer, die bei allen Anfragen angegeben werden sollte. Das Aktenzeichen ruht nun auf irgendeiner polizeilichen Papierhalde. In den letzten zehn Tagen ihres Lebens hat sich kein Ermittler bei ihr gemeldet.

Für die Berliner Polizei ist es trauriger Alltag, was mit der Seniorin geschehen ist. Genaue Zahlen liegen nicht vor, weil viele Rentner den Betrug gar nicht bemerken oder sie sich für ihre Blauäugigkeit schämen. Außerdem ist die Grenze zwischen Gaunerei und redlichem Verkauf fließend. Die meisten Unternehmen können gar nicht belangt werden, weil die Rentner, ohne es zu wissen, Daten weitergegeben haben und Verträge eingegangen sind. Die Verbraucherzentrale wird nicht müde zu warnen. Doch was nutzen Mahnungen, wenn die Betroffenen wehrlos sind und erst spät oder gar nicht bemerken, dass sie in die Falle getappt sind? Wer sich aus den Fängen der Betrüger retten will, sollte den Gang zur Verbraucherzentrale nicht scheuen. Die 15 Euro Gebühren für eine Rechtsberatung sind in jedem Fall eine gute Investition. Einfach alles zu ignorieren, ist der falsche Weg.

Margarete Krug musste in den letzten Tagen ihres Lebens faktisch ihre Identität wechseln. Neue Kontoverbindung, neue Telefonnummer. Und immer wieder die Angst, dass das Telefon klingelt und wieder eine ganz freundliche Dame oder ein freundlicher Herr am anderen Ende der Leitung ist, der eine ganz wichtige Nachricht für sie hat. Sie ahnte ja nicht, dass sie keine Zeit mehr haben würde für einen Neuanfang. Am 5. Juni wurde die alte Frau in aller Stille am dem St. Georg Parochial Friedhof in Prenzlauer Berg zu Grabe getragen. Noch immer landen in ihrem Briefkasten die grellen Sendungen: »Glückwunsch Frau Krug! Sie haben gewonnen!«

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