Verdrängungskampf im Einzelhandel
Arcandor-Insolvenz: Gewerkschaft ver.di sieht Politik als Hauptverursacher der Krise
»Hinterher ist man immer klüger«, scherzte der Arzt, als er feststellte, dass er statt des Raucherbeins das intakte amputiert hatte. Ärztliche Kunstfehler haben mit politisch-ökonomischen Fehldiagnosen eines gemeinsam: Sie werden schöngeredet. Gut studierbar ist das am Fall der Arcandor-Insolvenz: Die Bundesregierung sagt, dem Einzelhandelskonzern wurde deshalb nicht geholfen, weil die Schieflage bereits vor der Finanzkrise erkennbar war.
»Wer Lösungen will, findet Wege, und wer keine Lösungen will, erfindet Ausreden«, sagt ver.di- Vizechefin Margret Mönig-Raane im ND-Gespräch. Die Gewerkschafterin ist sich sicher, dass Arcandor ohne die Finanzkrise aus eigener Kraft wieder auf die Beine gekommen wäre. »Und die Finanzkrise ist Folge einer Politik, zu der Gewerkschaften immer gesagt haben: Wer meint, der Markt regelt sich von alleine, der handelt fahrlässig.«
Nach ihrer Ansicht lassen sich die Probleme bei Arcandor nur verstehen, wenn man die Situation im Einzelhandel genauer unter die Lupe nimmt. »Wir haben in Deutschland eine so intensive Wettbewerbssituation wie in keinem anderen Land in Europa und das führt zu unglaublichen Verwerfungen.« Frisst sich der Einzelhandel womöglich selbst auf? Die ver.di-Frau drückt es anders aus: »Die stetige Expansion von Verkaufsflächen führt zu einer Überversorgung an Geschäften und das erhöht den Verdrängungseffekt.« Über unseriöse Rabattschlachten und die Freigabe der Ladenöffnungszeiten freuen sich zwar die Kunden – doch wer redet von den Beschäftigten? Dass mehr Läden und längere Öffnungszeit zu mehr Umsatz und Beschäftigung führen, sei längst widerlegt.
Das belegen auch Zahlen des Branchenverbands HDE: Seit dem Jahr 2000 stieg die Verkaufsfläche im Osten der Republik von 18 Millionen auf 26 Millionen Quadratmeter und im Westen von 91 Millionen auf 99 Millionen. Dagegen blieb der Umsatz – bei jährlichen Schwankungen – nahezu gleich. Im selben Zeitraum nahm die Zahl der Beschäftigten stetig ab. Das Verhältnis zwischen Voll- und Teilzeitbeschäftigten war laut HDE im Jahr 2000 noch annähernd gleich (je ca. 1,4 Millionen). Aktuell sind 1,5 Millionen Beschäftigte in Teilzeit und 1,2 Millionen in Vollzeit. Demnach wurden in den vergangenen acht Jahren 100 000 Vollzeitarbeitsplätze gestrichen und weitere 100 000 in Teilzeitarbeitsplätze umgewandelt.
Mit erheblichen Umsatzeinbrüchen kämpfte der Einzelhandel 2002 bis 2005. Besonders betroffen war Karstadt. In einer dramatischen Rettungsaktion schloss der Konzern mit ver.di einen »Sanierungstarifvertrag« – die 70 000 Beschäftigten erbrachten »Opfer« wie Lohneinbußen, Verzicht auf Sonderzahlungen, Stundung von Tariferhöhungen und Reduzierung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich im Gesamtwert von 770 Millionen Euro.
In Folge dieser Krise verkaufte Karstadt auch einen Teil seiner Immobilien und mietete ihn zurück, was jetzt für Wirbel sorgt. Margret Mönig-Raane stimmte im Aufsichtsrat zu – dies sei die einzige Möglichkeit gewesen, an Geld zu kommen. »Die Häuser wurden zu ortsüblichen Mieten angemietet«, so die Gewerkschafterin. Lediglich bei fünf Häusern seien die Mieten überteuert.
Durch Verkäufe und Auslagerungen berappelte sich Karstadt einigermaßen. Ab Januar 2008 wurde wieder nach den gültigen Flächentarifverträgen gezahlt. Die Ruhe währte bis zum Spätsommer – tiefrote Zahlen kennzeichneten das Geschäftsjahr. Diesmal schlossen ver.di und Karstadt einen »Zukunftspakt«. Alle Beschäftigten mit einem Jahresgehalt von mehr als 18 000 Euro verzichteten für drei Jahre auf sieben bis zwölf Prozent ihres Lohns. Führungskräfte bringen zwischen 20 und 30 Prozent ein. So sollten bis 2011 gut 350 Millionen Euro eingespart werden.
Wenn die von Mönig-Raane angesprochenen Verwerfungen im Einzelhandel nicht beseitigt werden, dürfte es weitere Krisen à la Arcandor geben. Wäre ein Branchendialog zwischen Politik, Arbeitgeberverband und Gewerkschaft hilfreich? »Beim HDE gibt es so viele Interessen und die widersprechen sich oft«, antwortet die Gewerkschafterin. Und die Politik verantwortet die Krisenursachen: Kaufkraftverlust und gewollte Verdrängung im Einzelhandel.
Böse Zungen sagen, Opel werde gerettet, weil es hier um männliche Facharbeiter gehe, während bei Karstadt vor allem teilzeitbeschäftigte Frauen arbeiten. Das Gerede vom »Neuanfang in der Insolvenz« hört sich für die 56 000 Beschäftigten bei Arcandor derweil so tröstlich an wie der Scherz des Arztes an den Beinlosen: »Jetzt reichen kurze Hosen.«
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