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»Wir haben ein Recht zu erfahren, wer uns ausraubt«
Raouf Ben Mohamed von der Initiative Debt for Climate über illegitime Schulden des globalen Südens und faire Alternativen
Sie nehmen als Vertreter der Initiative Debt for Climate an der UN-Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung in Sevilla teil. Was ist Ihr Anliegen?
Wir sind der Meinung, dass wir diese Konferenz nicht jenen überlassen dürfen, die sich vor jeder Verantwortung drücken wollen. Es geht um Fragen des künftigen globalen Finanzsystems: Wer wird es kontrollieren? Wer wird darin geschützt: die Menschen oder die Gläubiger? Bei UN-Konferenzen besteht die Möglichkeit, dass der globale Süden gemeinsam entscheidet, denn alle Länder haben genau eine Stimme. Wir brauchen ein sozial gerechtes System und dafür setzen wir uns in Sevilla ein.
Was ist das Problem mit der aktuellen Entwicklungsfinanzierung?
Ganz einfach: Das, was sie »Entwicklungsfinanzierung« nennen, ist eine Lüge. Es geht nicht um Entwicklung. Nach dem Ende des Kolonialismus schufen die ehemaligen Kolonialmächte dieses System, um den globalen Süden in permanenter Verschuldung und Abhängigkeit zu halten. Unsere Regierungen dienen den Gläubigern und nicht der Bevölkerung. Wir zahlen jedes Jahr Milliarden an Zinsen an den globalen Norden, während unsere Schulen zusammenbrechen, unsere Krankenhäuser versagen und die Klimakrisenfolgen eskalieren, obwohl wir nicht dafür verantwortlich sind. Die Frage ist also: Um wessen Entwicklung geht es hier? Es braucht eine vom globalen Süden selbstbestimmte Entwicklung. Und die sehe ich hier nicht.
Was halten Sie von dem Ergebnisdokument, das bereits vor der Konferenz in den Verhandlungen ausgearbeitet wurde?
Es entspricht genau unseren Befüchtungen. Es geht um Reformen, Innovation und Nachhaltigkeit, aber in Wirklichkeit werden nach wie vor die Interessen der Gläubiger, der multinationalen Konzerne und der Finanzinstitute geschützt. Das Dokument erkennt die historische Verantwortung des globalen Nordens für die Jahre der Kolonialisierung und den Klimawandel nicht an. Begriffe wie Kolonialismus, Reparation und die Frage nach der Legitimität von Schulden werden vermieden.
Raouf Ben Mohamed ist bei Debt for Climate aktiv. Die Bewegung fordert eine bedingungslose Schuldenstreichung für den globalen Süden. Mit dem Aktivisten aus Tunesien sprach Lara Wörner.
Wie stehen Sie zu den viel diskutierten »Dept Swaps«: Schulden werden umstrukturiert oder zum kleinen Teil gestrichen, im Gegenzug muss das verschuldete Land in Entwicklungsprojekte investieren?
Dies legitimiert illegale Schulden, die von einem diktatorischen Regime ohne Transparenz aufgenommen wurden, oder illegitime Schulden, die nicht für soziale Zwecke, sondern für privaten Profit ausgegeben wurden. Debt for Climate fordert eine bedingungslose Schuldenstreichung für den globalen Süden – keine Umwandlung. Der Schuldenschnitt der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1953 zeigte, dass das möglich ist und wirkt.
Und jetzt ist es Deutschland, das wie die gesamte EU, Kanada, Großbritannien, Australien, Neuseeland, Japan und die Schweiz eine Reform des Staatsschuldensystems blockiert ...
Diese Tatsache zeigt, wer von diesem kaputten System profitiert. Eine Reform könnte gewährleisten, dass verschuldete Staaten Zahlungen aussetzen und die Grundbedürfnisse ihrer Bevölkerung priorisieren können. Es könnten faire, transparente sowie demokratische Mechanismen geschaffen und Gläubiger zur Rechenschaft gezogen werden. Daran haben die Länder des globalen Nordens kein Interesse. Sie haben den ursprünglichen Vorschlag verwässert und es bei dem vagen Versprechen belassen, eine Arbeitsgruppe einzurichten, die »freiwillige Vorschläge« macht.
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Wie sieht die deutsche Entwicklungsfinanzierung in Tunesien aus?
Die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, die ein Büro in fast jedem tunesischen Ministerium hat, leitet die Energiewende im Land. Deutschland gibt uns Kredite, um Projekte zu grünem Wasserstoff und zur Meerwasserentsalzung umzusetzen. Diese Projekte sind eine Form des grünen Kolonialismus: Sie nutzen unsere Sonne, unser Land und unser Wasser, produzieren damit Energie, und wir müssen die Energie zurückkaufen. Die Reparatur der alten, löchrigen Leitungen der Wassergesellschaft wäre kostengünstiger als der Bau der Meerwasserentsalzungsanlage, aber dafür bekommen wir keine Kredite. Und warum? Weil eine Privatisierung der Leitungen unmöglich ist. Für das Projekt der Meerwasserentsalzung hingegen kann Deutschland eine öffentlich-private Partnerschaft vorschlagen.
Debt for Climate ruft zu Schuldenprüfungen auf. Warum?
Wir haben ein Recht zu erfahren, wer uns ausraubt. Wir fordern, dass eine vom Volk gebildete Kommission untersucht, wer uns Geld leiht, zu welchen Bedingungen, wohin das Geld fließt und wer davon profitiert. Wir wissen sehr gut, dass die meisten Schulden illegitim sind. Für uns sind solche Prüfungen der erste Schritt zu einer Schuldenstreichung.
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