Noten und schwarze Pädagogik

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 2 Min.
Karikatur: Christiane Pfohlmann
Karikatur: Christiane Pfohlmann

Lina S. (Name geändert) geht seit einem Jahr auf das Gymnasium. Der Schulalltag ist für die Zehnjährige eine Tortour. Ihre Noten sind schlecht, die Lehrer streng, das Lernpensum enorm. Linas Eltern wissen sich nicht anders zu helfen und greifen auf drakonische Strafen zurück: Für jede schlechte Note wird der Tochter ein Spielzeug weggenommen und im Keller verstaut.

Das ist mittlerweile Alltag in Berlins »höheren Lehranstalten«. In der Regel wechseln Berlins Kinder zwar erst nach der sechsten Klasse von der Grundschule auf eine weiterführende Schule, doch nachdem in den letzten Jahren mehr grundständige Gymnasien zugelassen wurden, machen immer mehr Eltern von der Möglichkeit Gebrauch, ihre Kinder bereits nach der vierten Klasse auf das Gymnasium zu schicken.

Der Druck der organisierten Elternschaft ist enorm. Der Landeselternrat etwa spricht sich nachdrücklich für einen weiteren Ausbau der grundständigen Gymnasien aus. Erhöht wird der Druck noch durch den Zuzug von Menschen aus anderen Bundesländern, in denen der Schulwechsel nach der vierten Klasse die Regel ist und die um die Bildungschancen ihrer Kinder fürchten.

Unter der Wiederkehr der schwarzen Pädagogik muss nicht nur die Lina leiden. Das ganze Berliner Schulsystem ist unter die Räder übertriebener Bildungsambitionen mancher Eltern und mancher Politiker geraten. Auch die Grundschule spürt diesen Druck; schon Lehrerinnen von zweiten Klassen müssen sich dafür rechtfertigen, dass sie noch keine Noten verteilen, sondern Schriftgutachten erstellen, denn die Zensur, das wissen Eltern nur zu genau, entscheidet über den Zugang zum begehrten grundständigen Gymnasium und nicht die Lernkompetenz der Kinder.

Das Grundübel des deutschen Schulsystems – die Selektion aufgrund Ziffernnoten – wird auch nicht durch die jetzt vom Berliner Senat beschlossene Schulreform abgeschafft. Linas Leidensweg wird noch nicht zu Ende sein und ihre Leidensgenossinnen und -genossen stehen bereits vor dem Schultor.

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