Zeiten der Utopien

60 Jahre doppelte Staatsgründung und 20 Jahre antistalinistisch-demokratische Revolution

  • Stefan Bollinger
  • Lesedauer: 10 Min.

In diesen Wochen und Monaten begegnen sich im Jubiläumsrückblick auf die deutsche Nachkriegsgeschichte zwei Ereigniskomplexe, die zugleich Zäsuren nationaler und internationaler Entwicklung sind. Mit der doppelten Staatsgründung 1949 wurden zum einen über vier Jahrzehnte deutsche Zweistaatlichkeit eingeleitet. Ihr vorangegangen war die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches, in deren Folge in keinem Teil Deutschlands eine souveräne Entwicklung möglich war, weil deutsche Politik den Interessen und Weisungen der jeweiligen Siegermächte unterworfen war. Zum anderen stehen die Ereignisse des Herbstes 1989 in der DDR für den Aufbruch zu demokratischer Selbstbestimmung, der Wege zur staatlichen Vereinigung öffnete. Diese vollzog sich dann durch Beitritt der ostdeutschen Länder zur Bundesrepublik.

Übereinstimmungen und Polarisierungen

Wie schon vor zehn Jahren fokussiert sich die offizielle Erinnerung an 1949 auf die Gründungsakte der Bundesrepublik. Der zweite deutsche Staat und seine Gründungsgeschichte tauchen meist nur als Negativfolie zur Erfolgsgeschichte West auf. Das Scheitern der Deutschen Demokratischen Republik und ihr Beitritt zur Bundesrepublik vor fast zwei Jahrzehnten machen jedoch reichlich vier Jahrzehnte deutscher Zweistaatlichkeit nicht ungeschehen. Dass die Sozialisierungserfahrungen der DDR-Gesellschaft langfristig nachwirken, dürfte inzwischen kaum bestritten werden. Unabhängig davon, ob das als »Nostalgie« beargwöhnt oder als »ostdeutsches Selbstbewusstsein« bewertet wird, wäre die Gesellschaft der Bundesrepublik gut beraten, beide Entwicklungsverläufe der deutschen Nachkriegsgeschichte als ihr Erbe zu begreifen. Beide Stränge münden in aktuelle Prozesse und politische Konstellationen und gehören somit zur historischen Substanz der heutigen Bundesrepublik, gleich wie sie im einzelnen bewertet und gewichtet werden.

Die Gründung der Bundesrepublik ging der Bildung der DDR voraus. Ihre Gründungsväter kalkulierten im Einvernehmen mit den Westmächten die Ausgrenzung Ostdeutschlands und folglich eine länger währende staatliche und nationale Spaltung bewusst ein. Diese Entscheidung erfuhr in der Folgezeit mit der Alleinvertretungspolitik eine weitere Zuspitzung. Erst deren Überwindung ermöglichte ab den 1970er Jahren eine teilweise Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten.

Die Gründung der Bundesrepublik als einzig rechtmäßigen Weg und die Gründung der DDR im Umkehrschluss als nicht legitim darzustellen, geht an der Wirklichkeit jener Jahre völlig vorbei. Die Erfahrungen mit Faschismus und Krieg verlangten nach gesellschaftspolitischen Neuorientierungen. Von der Programmatik der unmittelbaren Nachkriegszeit haben sich jedoch alle deutschen Parteien entfernt und damit anfängliche Übereinstimmungen in ihren gesellschaftspolitischen Forderungen zum Schaden deutscher Einheit preisgegeben. Dass die Antworten auf die gemeinsame Ausgangssituation bald unterschiedlich ausfielen, war in den Auseinandersetzungen zwischen den politischen und sozialen Kräften in Deutschland und deren Polarisierung seit dem Ersten Weltkrieg und der Novemberrevolution angelegt. Zudem forderte der Kalte Krieg seinen Tribut. Während im Westen die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft überlebte und nach dem Demokratieverständnis der westlichen Besatzungsmächte umgestaltet wurde, vollzog sich im Osten unter dem Einfluss der Sowjetunion ein radikaler Umbau von Staat und Gesellschaft nach deren Muster. Dass sich das sowjetische Gesellschaftsmodell letztlich nicht als zukunftsfähig erwies, kann nicht die Hoffnungen und Leistungen der Gründer- und Aufbaugeneration sowie großer Teile der DDR-Bevölkerung diskreditieren. Allein aus dem Einfluss der Besatzungsmacht und den Mechanismen von Repression ist die relative Stabilität des zweiten deutschen Staates nicht zu erklären.

Die LINKE verschließt sich nicht der notwendigen kritischen Rückschau. Das ergibt sich aus der historischen Verantwortung sowie aus den gegenwärtigen gesellschaftlichen Widersprüchen, die nach einer Alternative verlangen. Nur die kritische und selbstkritische Analyse des Scheiterns der DDR, aber auch die des geringen Einflusses linker Organisationen und Initiativen in der früheren BRD, kann den Weg für gesellschaftliche Zukunftsprojekte öffnen. Die Reduzierung der DDR auf eine Repressionsgeschichte allerdings geht an der vielfältigen sowie widersprüchlichen Lebenswirklichkeit vorbei und führt zu Verwerfungen in der Geschichtsdebatte, die Aufklärung und Einsichten eher behindern als befördern.

Der Versuch, die DDR mit Hilfe der Totalitarismusdoktrin schlechterdings als »zweite deutsche Diktatur« in eine Reihe mit dem Faschismus zu stellen, ignoriert bewusst die gravierenden Unterschiede, vor allem ihre antifaschistische Entstehungsgeschichte und Staatsdoktrin. Solche Zweckkonstruktionen dürfen jedoch nicht davon abhalten, das Demokratiedefizit der DDR-Gesellschaft und das Ausmaß an Bevormundung und politischer Verfolgung zu benennen. Die aus der SED hervorgegangene Partei des demokratischen Sozialismus hat sich bereits auf dem Außerordentlichen Parteitag im Dezember 1989 zu dieser Verantwortung bekannt und sich vom »Stalinismus als System« eindeutig distanziert. Dieses Selbstverständnis bleibt eine Existenzbedingung für die LINKE.

Die DDR-Gesellschaft versprach, die Ideale der sozialistischen Bewegung – wie soziale Gerechtigkeit und die Aufhebung des Bildungsprivilegs – zu verwirklichen. Nicht zuletzt deshalb blieb trotz der vielfältigen Konflikte und allgegenwärtigen Deformationen vor allem die »Aufbaugeneration« diesem Staat lange Zeit mehrheitlich in widersprüchlicher Loyalität verbunden. Die Traditionen der Demokratiebewegung hingegen kamen nur eingeschränkt zur Geltung. Die angestrebte Ausstrahlungskraft auf die Bundesrepublik konnte u. a. deshalb nie erreicht werden, was letztlich auch linken Kräften im Westen Grenzen setzte.

Die wachsenden Rückstände in der Produktivität und beim Lebensstandard im Osten führten vielmehr zu einem Wettbewerbsvorteil der Bundesrepublik und zu wachsender Anziehungskraft eines lernfähigen Kapitalismus mit seiner sozialen Marktwirtschaft. Dennoch lassen sich zwischen den beiden deutschen Staaten im Rückblick viele wechselseitige Abhängigkeiten und asymmetrische Verschränkungen ausmachen. Manche Ereignisse und Vorgänge erschließen sich erst aus diesem Blickwinkel. Die Systemkonfrontation verlangte sowohl den Bezug auf den nationalen Konkurrenten als auch die Abgrenzung von ihm.

Der Ausgang des Systemwettbewerbs begünstigt die Tendenz, die kritische Analyse auf die unterlegene Seite zu beschränken. Die vorherrschende Geschichtspolitik zielt auf die Delegitimierung der DDR. Die gesellschaftlichen Konflikte und der Reformbedarf der BRD, der bereits vor 1990 offensichtlich war, geraten dabei aus dem Blickfeld. Bewusstes politisches Handeln verlangt aber dringend nach einer kritischen Rückschau auf die Geschichte der Gesellschaft, die in der Systemauseinandersetzung des 20. Jahrhunderts zwar überlegen war, deren Probleme mit diesem Sieg aber nicht verschwanden.

Die selektive Geschichtserzählung

Der Herbst 1989 brachte für Deutschland und die Linken gravierende Einschnitte: Im Osten Deutschlands griffen große Teile der Bevölkerung unmittelbar in die Politik ein. Heterogene Kräfte mit unterschiedlichen Motiven und Zielen drängten auf die politische Bühne. Insofern war es unausbleiblich, dass in der Folgezeit ein Differenzierungsprozess einsetzte. Viele der damaligen Akteure kehrten enttäuscht in die politische Passivität zurück; manche begaben sich unter das Dach der etablierten westdeutschen Parteien, die mit dem demokratischen Aufbruch des Jahres 1989 nichts im Sinne hatten. Nur eine Minderheit verfolgt auch unter den veränderten Bedingungen wiedergewonnener staatliche Einheit weiterhin die Ursprungsanliegen der 1989er Bewegung.

Die offizielle Geschichtserzählung und die Jubiläumsfeiern der BRD rücken den Mauerfall in den Mittelpunkt der »friedliche Revolution« des Herbstes 1989. Nach 56 Jahren unter »zwei Diktaturen« hätten die Ostdeutschen die SED-Herrschaft abgeschüttelt und den Weg in die heile Welt der Bundesrepublik mit sozialer Marktwirtschaft und funktionierender parlamentarischen Demokratie gefunden. Die Grenzöffnung und der darauf folgende rasche Beitritt der DDR zur Bundesrepublik werden aus dieser Sicht zum Höhe- und Schlusspunkt jüngerer deutscher Geschichte.

Für die LINKE kann solch selektive Betrachtung, die in den heutigen Zuständen, d. h. im Kapitalismus, die Erfüllung der Geschichte sieht, nicht das letzte Wort sein. Sie sieht im demokratischen Aufbruch der DDR-Bürger im Herbst 1989 den Versuch einer demokratischen Revolution für eine bessere DDR, der mit der Grenzöffnung am 9. November durch die alte SED-Führung die Spitze genommen und die wenig später unter massiver Einflussnahme der westdeutschen politischen Klasse sowie ihrer Parteien und Institutionen abgebrochen und in eine kapitalistische Restauration übergeleitet wurde.

Die Charakterisierung der Ereignisse im Herbst 1989 als demokratische Revolution, die sich gegen verknöcherte administrativ-zentralistische Strukturen richtete, mag manche Linke, die allein das Resultat sehen, verunsichern. Wenn aber große Teile eines Volkes, unter Beteiligung beträchtlicher Teile der Staatspartei die bisherigen Machtverhältnisse in Frage stellen, ihre Führung zum Teufel jagen und versuchen, neue politische Strukturen von unten her aufzubauen – dann bleibt das eine Revolution, auch wenn das Resultat von manchen der Akteure nicht gewünscht war.

Dieses Verständnis der Ereignisse von 1989/90 schließt zwei zentrale Einsichten ein: Die DDR steckte wie der gesamte Ostblock 1989 in einer tiefen Krise, die alle gesellschaftlichen Bereiche – Ökonomie, Ideologie, Öffentlichkeit und Macht – erfasst hatte. Nach Reformverzicht und Reformunterdrückung in den späten 1960er Jahren standen grundlegende Veränderungen auf der Tagesordnung. Das praktizierte sozialistische Gesellschaftsmodell, das das Machtmonopol einer Partei und ihrer Führungsgruppe zementierte, eine willkürliche Sicherheitsdoktrin umsetzte, demokratische Öffentlichkeit und Interessenvermittlung weitgehend ausschloss und nicht zuletzt auf Wirtschaftsreformen verzichtete, war zwar nicht mehr das des Hochstalinismus mit seinen hemmungslosen Repressionen. Aber Bürger wie Parteimitglieder spürten, dass ihre Meinung nicht gefragt war. Sie erlebten, dass abweichendes Verhalten teilweise immer noch zu Repressalien führte und dass demokratische Freiheiten, wie sie die DDR-Verfassung formal garantierte, nicht praktiziert werden konnten.

1989 entlud sich das, was nicht erst seit 1968 in Osteuropa auf der Tagesordnung stand. Die Reaktionen auf die Krise waren in der DDR unterschiedlich. Nicht wenige, gerade jüngere Menschen wandten sich von ihrem Staat und seinen Idealen ab und suchten ihr Heil in Flucht oder Ausreise. Die mit der Perestroika verbunden Hoffnungen zerstoben angesichts der starren Haltung der SED-Führung. Andere, meist außerhalb der SED stehende kritische Bürger, wollten sich mit Krise und Flucht nicht abfinden. Sie formierten sich unter dem Dach der Kirche und in Diskussionskreisen, um über Alternativen zu reden. Doch die sprachlos gewordene SED-Führung verweigerte sich dem notwendigen Dialog. Im Zusammenhang mit den gefälschten Kommunalwahlen vom Mai und dem Massenexodus vom Sommer 1989 formierten sich oppositionelle Kräfte zu Bürgerbewegungen. Erst jetzt und viel zu spät erwachten SED-Mitglieder und Funktionäre.

Für eine demokratische Revolution mit antistalinistischer Stoßrichtung spricht ebenfalls, dass die Bürgerbewegungen und die meisten Bürger, die im September und Oktober 1989 auf die Straße gingen, eine andere DDR und die Erfüllung der Ideale des Sozialismus einforderten. Die deutsche Einheit oder die Rückkehr zum Kapitalismus standen zunächst nicht auf ihrer Agenda. Die Protestierenden fanden in nachdenklich und zunehmend aufmüpfig werdenden Teilen der SED-Mitgliedschaft Verbündete, die selbst in den Sicherheitsorganen begriffen, dass dieses Land nicht durch Gewalt ruhig gestellt, sondern nur durch Reformen zu ändern war. Die Repressalien im Umfeld der Oktoberfeiern brachten das Fass zum Überlaufen.

Der Sturz der alten SED-Führung und die Rückkehr der Initiative in die Hände der Bevölkerung, die sich in den vielen Vertrauensabstimmungen in den Betrieben und in der Arbeit der Runden Tische manifestierte, war der Erfolg des Herbstes 1989. Es war der Beginn einer kurzen Utopie im 41. Jahr der DDR, in dem sie ihren Gründungsidealen am nächsten kam. Diese Veränderungen waren nicht in erster Linie das Werk der SED oder ihrer Reformer. Aber ohne das Umdenken in der Partei ist diese Entwicklung gleichfalls nicht zu verstehen.

Mit der Maueröffnung verlor diese Revolution ihre Basis. Die politische Stimmung in der DDR war inzwischen gekippt. Das Verhältnis von Bürgerbewegungen und SED-Reformern blieb von Misstrauen geprägt und durch die schleppende Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit auf lange Zeit zerrüttet bzw. feindselig. Vor allem aber dominierte in der Massenstimmung nun die Sehnsucht nach einem Weg ohne Experimente. Die Bundesrepublik mit ihrer Wirtschaftskraft und ihren sozialen Standards bot sich als Lösung an. Die Wahlen zur Volkskammer am 18. März 1990 brachten jene Kräfte in Verantwortung, die bereit waren, auf eigene Wege zugunsten eines raschen Beitritts zur Bundesrepublik zu verzichten.

Ostdeutschland als Experimentierfeld

Die Bilanz fällt für die Ostdeutschen zwiespältig aus. Sie gewannen bürgerlich-demokratische Institutionen und gesetzlich garantierte Freiheiten, eine konvertierbare Währung, Reisemöglichkeiten und Zugang zu einem riesigen Konsumgüterangebot. Bausubstanz und Infrastruktur ihrer Städte und Gemeinden verbesserten sich in den Folgejahren sichtlich. Zugleich büßten sie soziale Rechte ein. Ihnen wurden ernorme Anpassungsleistungen abverlangt. Viele verloren ihren Arbeitsplatz. Der versprochene selbsttragende Aufschwung kommt nach der gezielten Deindustrialisierung nur schwer in Gang. Die Anpassung der Löhne, Gehälter und Renten lässt auch nach fast zwei Jahrzehnten auf sich warten. Im Westen der vergrößerten Bundesrepublik änderte sich durch die Umbrüche im Osten zunächst nichts. Im Laufe der Jahre zeigte sich jedoch, dass der Osten Deutschlands als neoliberales Experimentierfeld diente, um danach Deregulierung und Sozialabbau auf ganz Deutschland auszuweiten.

Den Linken bleibt die Erfahrung, dass Krisen über Nacht Massen politisieren können, dass es aber weit schwieriger ist, Proteste und Bewegungen durch Organisation und Programm zu verstetigen. Ihnen bleibt die Erfahrung, dass sie sich in der Krise als Partei des demokratischen Sozialismus neu zu formieren wussten, sich in der politischen Landschaft der Bundesrepublik behaupteten und mit linken Strömungen in den alten Bundesländern zu einer neuen politischen Kraft formieren konnten, die ein breites Spektrum gesellschaftskritischer Kräfte vereint.

Dr. Stefan Bollinger und Prof. Jürgen Hofmann verfassten das hier veröffentlichte Diskussionspapier als Mitglieder der Historischen Kommission beim Parteivorstand der LINKEN.

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