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Bedrückende Toleranz

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.

Vorweg folgendes: Ich verstehe die Argumentation des Berliner Schülers Yunus M., er müsse als gläubiger Muslim streng an den Gebetsregeln seines Glaubens festhalten. Für gläubige Menschen gibt es keine Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem. Ich verstehe auch, dass Vertreter der christlichen Kirchen das Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts begrüßen, das der Klage des 16-Jährigen gegen das Gebetsverbot an seinem Gymnasium stattgab. Schließlich eröffnet es ihnen die Chance, Ähnliches für sich zu fordern. Warum allerdings das Gericht meint, von einem strenggläubigen Schüler könne nicht erwartet werden, grundsätzlich nur außerhalb der Schulzeit zu beten, das verstehe ich nicht.

Ich bin in einer Gegend groß geworden, in der sich die beiden abendländischen christlichen Konfessionen über Jahrhunderte hinweg befehdet haben und in der Ehen bis vor wenigen Jahrzehnten unter strikter Berücksichtigung der Konfessionszugehörigkeit geschlossen wurden. Noch in der Generation meiner Eltern waren gemischt-konfessionelle Eltern die Ausnahme und als evangelischer Christ war ich in den 1970er Jahren beim morgendlichen Schulgebet aufgrund des anderen Gebetsrituals ein Außenseiter. Wenn die katholischen Mitschüler Religionsunterricht hatten, hatte ich eine Freistunde und spielte auf dem Pausenhof mit einem türkischen Jungen (Muslim) und einem Mitschüler, dessen Eltern Zeugen Jehovas waren. Die Emanzipation von der Religion (genau genommen: von der Konfession) hat sich im bayerischen Franken die Generation meiner Eltern erst erkämpfen müssen; beim Thema religiöse Toleranz bin ich also Experte.

Was dabei herauskommt, wenn offensichtliche Laien über das Thema Glauben und religiöse Toleranz urteilen, kann man an der Urteilsbegründung der Berliner Richter ersehen. Durch das Beten des Schülers würden keine Konflikte verursacht oder vertieft. Die Neutralitätspflicht des Staates in religiösen Fragen verlange vor allem Zurückhaltung bei eigenen Aktivitäten, nicht jedoch das Gebot, gegen religiöse Betätigungen von Schülern vorzugehen, um damit Anders- oder Nichtgläubige in deren »negativer Bekenntnisfreiheit« zu schützen, argumentiert das Berliner Verwaltungsgericht. Genau das ist aber eine Fehleinschätzung. Wenn eine derart strenge Auslegung der Glaubensregeln einer Religionsgemeinschaft gebilligt wird, steigt der Druck auf andere muslimische Schüler, die ihren Glauben weniger rigide praktizieren, und auch manche nicht-muslimische Jugendliche dürften dies als bedrückend empfinden.

Die staatliche Aufgabe, in offenen Gesellschaften zwischen Glauben und säkularisiertem Alltagsleben feinfühlig auszubalancieren, wird hierdurch erschwert. Dass eine Religion strenge Vorschriften bezüglich der Lebensführung und der Glaubensbekundungen erlässt, die unbedingt einzuhalten sind und die nicht liberal interpretiert werden können, kann nur der meinen, der von religiöser Tradition wenig versteht. Und dieses Urteil trifft auf manche Juristen ebenso zu wie auf viele Konvertiten.

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