»Alle denken, dass ich stinke«

Unerwartete Entdeckungen in Pekings musikalischem Untergrund

  • George Lindt
  • Lesedauer: 5 Min.

Als ich 2004 zum ersten Mal nach China reiste, hatte ich keine großen Erwartungen. Ich hatte gelesen, China sei immer noch ein konformes Land. Anstatt aus Maokittelträgern bestünde das Land aus gleichgeschalteten Konsumenten. Mit denen in Kontakt zu kommen, sei ein Ding der Unmöglichkeit.

An meinem zweiten Abend in Peking stolperte ich zufällig in ein Konzert von Chinas einziger Mädchenrockband Hang On The Box. Die Sängerin – wippende Zöpfe, Hot Pants und geringelte Kniestrümpfe wie Pipi Langstrumpf – hielt über weite Strecken einen Lautsprecher ans Mikrofon, anstatt selbst zu singen. Soweit ich ihr charmantes »Chinglish« verstehen konnte, ging es in den Texten um Selbstbefriedigung, Männerjagd und Drogenkonsum. Im Publikum stand weiter vorn eine Schar junger Chinesinnen Anfang zwanzig, die Zeile für Zeile mitsangen. Weiter hinten ein paar skeptische Jungs, die eher verschreckt wirkten als begeistert.

Beim bonbonfarbenen Cocktail nach dem Konzert erzählte uns Wang Yue, die Sängerin, sie habe vor, das konfuzianische Rollenverständnis auf den Kopf zu stellen und gegen ein Land anzusingen, in dem sich das Schriftzeichen für »Frau« aus »gut« und »Sohn« zusammensetzt und Mädchen immer noch heimlich abgetrieben werden. Zufällig hatte ich meine Videokamera dabei. Noch während sich Wang Yue über chinesische Männer mokierte, die beim Sex immer oben liegen wollen, beschloss ich, mehr aus meinen Ferien zu machen. Ich fragte Wang Yue, ob sie andere Bands kennen würde, die so interessant seien wie ihre eigene. Sie gab mir die Telefonnummer von Bian Yuan, dem Sänger von Pekings bester Punkband Joyside.

Am nächsten Tag machte ich mich auf den Weg in einen Pekinger Vorort, in den sich Touristen selten verirren. Hier leben viele Wanderarbeiter in ihren traurigen Wellblechhütten, hier verkaufen Bauern noch ihre Melonen vom Eselskarren. Die Wohnungen sind so günstig, dass sich selbst die ärmsten Punks noch die Miete leisten können. Ein verkaterter und ungeduschter Bian Yuan führte uns in die Wohnung, in der er mit Freundin und Band hauste. Nachdem er uns die vollgekritzelten Wände, das Matratzenlager und die verklebte Küche mit leerem Kühlschrank gezeigt hatte, begann er zu erzählen. Er sagte, im Bus würde sich meist keiner neben ihn setzen, weil alle denken, dass er stinkt. Er erzählte, dass er sein Studium der Anthropologie vor Kurzem abgebrochen habe. Und dann schüttelte er sich seine Locken aus dem Gesicht, kicherte meckernd und formulierte einen Satz, der später berühmt werden sollte: »I just want to sing, drink and fuck.«

Drei Jahre später druckten wir diesen Satz auf T-Shirts, die wir auf der Premiere unseres Dokumentarfilms »Beijing Bubbles« über Punk und Rock in Chinas Hauptstadt verschenkten. Der Film war auf vielen Festivals gelaufen und auf große Resonanz gestoßen. Die Zuschauer mussten nicht viel von China wissen, um zu verstehen: Hier ging es um eine Szene, die sich sehr bewusst aus allem heraushält, was derzeit in China vor sich geht.

Diese jungen Leute haben nichts am Hut mit dem Aufstieg ihres Landes zu einer Wirtschaftsmacht, mit dem Run auf großes Geld und steile Karrieren, die derzeit in China die meisten im Sinn haben. China ist kein konformes Land mehr, aber viele haben die größte Hungersnot der Menschheitsgeschichte, bei der Ende der fünfziger Jahre mehr als zwanzig Millionen Menschen starben, noch lebhaft in Erinnerung. Die heute Fünfzig- und Sechzigjährigen konnten wegen der Kulturrevolution oft nicht zur Schule gehen oder studieren. Viele junge Leute setzen alles daran, an eine gute Universität zu kommen. Nur so können sie mit Mitte zwanzig heiraten, ein Kind bekommen, eine Wohnung kaufen und vielleicht die Eltern aus der Provinz in die große Stadt nachholen. Nach Konfuzius, dessen Moralphilosophie noch immer gilt, ist die Kindespflicht eine der obersten Pflichten des Chinesen.

Vor diesem Hintergrund erscheinen die jugendlichen Aussteiger, die wir in »Beijing Bubbles« porträtiert haben, nicht ausschließlich als gute Kopisten von Punk in London 1977. In China, das sticht jedem ins Auge, braucht es trotz allen Fortschritts noch immer sehr viel mehr Mut, so zu leben und so sehr aufzufallen. Diese Individualisten verzichten freiwillig auf Optionen, die andere, ältere Menschen in China nie hatten. So ist es auch kein Zufall, dass die meisten Undergroundmusiker in China nicht unbedingt in reichen, aber doch in gebildeten Familien aufgewachsen sind. Verzicht muss man sich leisten können. Seit »Beijing Bubbles« im Kino lief und wir deshalb mit Bian Yuans Band Joyside auf Europatournee waren, sind mehr als zwei Jahre vergangen. Zwei Jahre sind in einem Land, in dem sich momentan vieles so schnell verändert wie nirgendwo sonst, eine lange Zeit. Pekings Musikszene ist größer geworden, inzwischen gibt es nicht mehr nur Punk, sondern auch Postpunk, Ska, Rockabilly und vieles mehr. Und weil man in China nur von der Musik leben kann, wenn man fernsehfähige Schlager produziert, haben die Musiker andere Wege gefunden, sich Wohnungen im Stadtzentrum und ein warmes Essen täglich leisten zu können. Liu Hao zum Beispiel, der Bassist von Joyside: Er betreibt einen Secondhand-Klamottenladen in Pekings Altstadt. Oder Liu Hongwei, der Gitarrist: Er betreibt jetzt ein Studio in Peking, wo andere Bands ihre Songs aufnehmen können.

Und wir? Wir sind wieder einmal unterwegs mit den Musikern, auf einer kurzen Tournee durch Deutschland und Österreich. Diesmal haben wir nicht mehr nur Joyside dabei, sondern auch die Carsickcars, eine junge Pekinger Band, die sich erst gegründet hat, als unsere Dreharbeiten abgeschlossen waren. Wir sind nicht mehr so aufgeregt wie vor zwei Jahren, als Joyside zum ersten Mal in Europa unterwegs waren. Die Konzerte sind auch so immer ausverkauft. Chinesische Undergroundmusik hat in Deutschland einen Kreis von Fans gefunden, die immer wiederkommen. Dass die Bands aus einem weit entfernten, exotischen Land kommen – das scheint dabei immer seltener eine große Rolle zu spielen.

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