Spritze kann angeordnet werden

Infektionsschutzgesetz hebelt im Seuchenfall die Grundrechte der Bürger aus

  • Walter Schmidt
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Ende Oktober anlaufende Impfung gegen die Neue Grippe, irreführend Schweinegrippe genannt, wird freiwillig sein. Doch bei gefährlichen Seuchen ist auch in Deutschland eine Zwangsimpfung möglich.

Unmissverständlich steht in Artikel 2 des Grundgesetzes: »Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.« Das bedeutet auch: Kein Arzt darf einem Patienten ohne dessen ausdrückliche oder mutmaßliche Zustimmung eine Spritze geben – außer im Notfall, wenn der Patient zum Beispiel bewusstlos und sein Leben in Gefahr ist. Doch was, wenn eine gefährliche Seuche ausgebrochen und das ganze Volk bedroht ist – und sich Menschen der Impfung verweigern?

Auch in Deutschland können die Behörden schlimmstenfalls Impfungen vorschreiben. Das Recht dazu gibt ihnen das »Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen«, kurz Infektionsschutzgesetz. In dessen Paragraph 20 ist zu lesen: »Das Bundesministerium für Gesundheit wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates anzuordnen, dass bedrohte Teile der Bevölkerung an Schutzimpfungen oder anderen Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe teilzunehmen haben, wenn eine übertragbare Krankheit mit klinisch schweren Verlaufsformen auftritt und mit ihrer epidemischen Verbreitung zu rechnen ist.« Schon 1959 hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit im Kern nicht durch einen Eingriff missachtet werde, der die Unversehrtheit der Gefährdeten ja gerade erhalten will. Ausnahmen vom Impfzwang sind jedoch möglich, wenn bestimmte Impfpflichtige durch den Eingriff Schaden erleiden oder gar sterben würden.

Doch auch andere Grundrechte können die Bundesbürger im Notfall zeitweilig einbüßen. Die im Paragraph 28 des Gesetzes geregelten diversen »Schutzmaßnahmen« reichen von der Quarantäne über die Schließung öffentlicher Einrichtungen bis zum Verbot von »Veranstaltungen oder sonstigen Ansammlungen einer größeren Anzahl von Menschen«.

Ein Trost bleibt den »Ausscheidern, Ansteckungsverdächtigen, Krankheitsverdächtigen oder sonstigen Trägern von Krankheitserregern« immerhin: Paragraph 56 verheißt ihnen eine finanzielle Entschädigung, die sich in den ersten sechs Wochen nach dem tatsächlichen Verdienstausfall bemisst, später nur noch nach dem jeweiligen Krankengeld. Entschädigungsberechtigt sind Menschen, die infolge der Zwangsmaßnahmen ihrer Erwerbstätigkeit nicht oder nur eingeschränkt nachgehen können und dadurch einen Verdienstausfall erleiden.

Die Neue Grippe gilt trotz eines Todesfalls in Deutschland, bei dem ihre Viren mit im Spiel waren, als vergleichsweise milde Seuche. »Das Infektionsschutzgesetz sieht die Möglichkeit einer Pflichtimpfung generell vor, aber mir ist niemand bekannt, der das in Deutschland für die Neue Grippe gefordert hätte«, sagt denn auch Susanne Glasmacher, Sprecherin des Robert-Koch-Instituts in Berlin, der zentralen Stelle der Bundesregierung zur Überwachung von und Vorbeugung gegen Krankheiten. Das Bundesgesundheitsministerium habe »mehrfach darauf hingewiesen, dass die Impfung freiwillig ist«.

Die gesetzlich verankerte Möglichkeit zur Zwangsimpfung hält Glasmacher »für notwendig«, da ein erforderliches Gesetz im akuten Notfall womöglich nicht schnell genug verabschiedet werden könne. Ihres Wissens gebe es keine bestimmte Infektionsrate (Durchseuchung), ab der automatisch ein Impfzwang bestehe; zu unterschiedlich könnten die Aggressivität und das Ausbreitungstempo eines Erregers sein.

Allenfalls der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) habe immer mal wieder eine Zwangsimpfung gefordert, fügt die RKI-Sprecherin hinzu – etwa wenn ein Masern-Todesopfer zu beklagen war. Doch habe das Bundesgesundheitsministerium derlei stets mit Verweis auf das Grundrecht zur körperlichen Unversehrtheit zurückgewiesen.

Nach Angaben des BVKJ sind in Deutschland »in den vergangenen Jahren Kinder immer wieder an Krankheiten verstorben, die es anderswo gar nicht mehr gibt«, darunter an Mumps. Dabei habe die Bundesrepublik »sich gegenüber der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verpflichtet, die Masern im Lande bis zum Jahr 2010 zu eliminieren«, mahnt die Lobby der Kinder- und Jugendärzte. Trotzdem sind auch Masern-Impfungen bisher freiwillig – und werden es wohl auch bleiben.

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