Schmerzhafte Spuren

Die Historikerin Erika Schwarz hat jüdische Zeugenaussagen gegen Globke gesichtet und ediert

  • Lesedauer: 6 Min.
Rechtzeitig zum Jahrestag der »Reichskristallnacht« vom 9./10. November 1938 hat die Berliner Historikerin ERIKA SCHWARZ im Verlag Hentrich & Hentrich ihr neues Buch »Juden im Zeugenstand. Die Spur des Hans Globke im Gedächtnis von Überlebenden der Schoa« (260 S., 32 €) herausgegeben. Mit der bis Mitte der 90er Jahre an der Berliner Humboldt-Universität tätigen Autorin mehrerer Bücher zur Judenverfolgung in der Nazizeit sprach KURT PÄTZOLD.
Schmerzhafte Spuren

ND: Wie sind Sie auf den Bestand gestoßen, aus dem Sie jetzt geschöpft haben?
Schwarz: Vor sechs Jahren hatte das Bundesarchiv ein Findbuch zur Überlieferung der Generalstaatsanwaltschaft der DDR 1949 bis 1990 vorgelegt. Es verzeichnet auch Hunderte Vernehmungsprotokolle aus dem Jahr 1963, entstanden im Zusammenhang mit dem Prozess gegen den Staatssekretär im Bonner Bundeskanzleramt Hans Maria Globke. Nachdem ich mir einige dieser Dokumente angeschaut hatte, war mir klar, hier handelt sich um eine einmalige Quelle: Berichte Überlebender der Schoa über ihre Verfolgungsgeschichten. Ich konsultierte den inszwischen, zu früh verstorbenen Günther Wieland, der seinerzeit als Staatsanwalt aus über 600 vernommenen DDR-Bürgern 28 ausgewählt hatte, die im Hauptprozess gegen Globke aussagen sollten. Er kannte die Protokolle. Und er ermutigte mich, an deren historische Auswertung zu gehen.

Und da haben Sie sich sofort in die Arbeit gestürzt?
Naja, mit den Mitteln einer Hartz-IV-Empfängerin konnte ich das Forschungsvorhaben nicht verwirklichen. Auf meine bundesweit versandten Förderanträge reagierte einzig der Direktor der Stiftung Neue Synagoge Berlin Centrum-Judaicum Dr. Hermann Simon positiv und zeigte großes Interesse. Er gewann das Bundesministerium des Innern und den Verleger Gerhard Hentrich für die Realisierung des Projektes.

Ihre Quellen entstanden durch eine einzigartige Enquete. Wie sind deren Initiatoren zu den Personen gekommen, die sie befragten?
Letzte Gewissheit ließ sich darüber nicht gewinnen. Sicher ist, dass die Jüdischen Gemeinden in der DDR die Generalstaatsanwaltschaft unterstützten. So waren von den 253 in Berlin Befragten 224 in Karteien oder Listen der Jüdischen Gemeinde verzeichnet. Herangezogen wurden auch die nach dem Krieg angefertigten Anträge und Fragebögen zur Anerkennung als Opfer des Faschismus und Mitglied der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Beteiligte berichteten, dass auch der von der Generalstaatsanwaltschaft veröffentlichte Steckbrief Betroffene veranlasste, sich als Zeugen zu melden. Nicht nur in Berlin, sondern auch in anderen Bezirken der DDR.

Haben Sie, über 40 Jahren danach, noch Personen sprechen können, die an der damaligen Aktion – sei es fragend, berichtend, protokollierend oder organisierend – beteiligt waren?
Als ich meine Arbeit begann, lebten die meisten Befragten nicht mehr. Die jüngsten Zeugen waren 1963 zwischen 43 und 34 Jahre alt. Aus dieser Gruppe konnte ich einige sprechen. Das waren unvergessliche Begegnungen, so die mit dem Musikwissenschaftler Professor Eberhard Rebling und seiner Tochter Kathinka. Professor Hans Alfred Rosenthal, der mit seinen Eltern 1963 angehört worden ist, schilderte, wie sich seine Familie entschloss, sich als Zeugen zu melden. Mir gelang es auch, Kontakte zu Nachkommen herstellen, was den Zugang zu Familienarchiven öffnete. Sehr aufschlussreich waren ebenso die Gespräche mit den einst vernehmenden Staatsanwälten.

Verrät die Liste der Befragten etwas über Auswahlkriterien?
Nichts in den Akten lässt politische oder andere Auswahlkriterien vermuten. Die Skala der Vernommenen war sehr breit. Auf ihr erscheinen bekannte Persönlichkeiten wie Lea Grundig, Peter Edel, Helmut Aris. Die Mehrzahl aber waren »Durchschnittsbürger«.

Das Verlangen der Staatsanwälte, die Ereignisse exakt und gerichtsverwertbar geschildert zu bekommen, zwang die Befragten, sich an furchtbare Stunden und Erlebnisse bis ins Einzelne zu erinnern. Haben einige Menschen sich auch der Zeugenschaft verweigert? Und lässt sich aus den Akten ein Bild der Atmosphäre während dieser Befragungen gewinnen?
Dass sich einige der Mitwirkung verweigert hätten, kann ich dokumentarisch nicht belegen. Doch lässt sich vermuten, dass manche sich psychisch nicht imstande sahen auszusagen. Vorstellbar ist auch, dass Angesprochene aus ganz persönlichen oder politischen Gründen nicht befragt werden wollten. Wie schwer es einigen Zeugen während der Vernehmung fiel, sich an Todesangst und Qualen in den Konzentrationslagern, Ghettos oder Sammellagern zu erinnern, vermerkten die Staatsanwälte in Zusätzen zu den Protokollen.

Andererseits könnte es für die Befragten auch eine Befreiung gewesen sein auszusagen.
Die Motive derer, die berichteten, lagen in ihrem Rechtsverständnis und verbanden sich natürlich mit der Genugtuung darüber, dass nun ein Mann angeklagt werden sollte, der als Oberregierungsrat im Reichsinnenministerium an der Schaffung jener juristisch-bürokratischen Grundlagen beteiligt gewesen war, die sie kategorisiert hatten. Die über Leben oder Tod von Familienmitgliedern, Bekannten und Freunden entschieden hatten. Wie sollten auch die Opfer verstehen, dass ausgerechnet der Mann, der dies mit zu verantworten hatte, Globke, vom ersten Bundeskanzler mit einem solch einflussreichen Posten betraut wurde?

Die Protokolle berichten vom Alltag jüdischer Deutscher inmitten einer Mehrheit von zu »Ariern« erklärten Deutschen. Lässt sich aus den vielen Einzelschicksalen so etwas wie eine Summe ziehen oder ein Gesamtbild zeichnen?
In den Quellen findet sich das Gemeinsame ebenso wie das Besondere. Die verschiedenen Schicksale waren bedingt durch lokale Verhältnisse und Situationen, soziale und familiäre Zustände, das jeweilige Orientierungs- und Reaktionsvermögen wie auch das physische und psychische Befinden. Und natürlich, inwieweit es Solidarität mit den Diskriminierten und Verfolgten gab oder nicht. Das lässt sich in den von mir ganz oder auszugsweise wiedergegebenen Dokumenten gut nachlesen.

Wieviele Befragte kommen bei Ihnen zu Wort?
Von den insgesamt 636 Befragten sind in meinem Buch 128.

Sie haben sich in früheren Veröffentlichungen mit den Tätern befasst. Kommen – außer Globke – diese in Ihrem neuen Buch ebenfalls in den Blick?
Ja. Aber während ich mich bisher mit den »prominenten« Organisatoren des Massenmords beschäftigt habe, wurde ich nun vor allem mit den »kleinen Tätern« konfrontiert. Es ist erstaunlich, wie sich die Befragten 18 Jahre nach der Befreiung noch sehr genau an ihre Peiniger und deren Untaten erinnern. Sie berichteten von der Gewalt der Aufseher in den Konzentrationslagern und Ghettos wie auch während ihrer Zwangsarbeit in der »Organisation Todt«. Sie beschrieben Schikane und Diffamierungen durch die Beamten auf den Polizeistellen, in Gefängnissen und Sammellagern. In einigen Fällen war es mir möglich, Täter namentlich zu identifizieren.

Die DDR und die Juden – das ist ein Thema, bei dem der ostdeutsche Staat unter Dauerverdacht gestellt wird. Daher verwundert die These nicht, der Prozess gegen Globke, der ja in Ostblerin geführt wurde, habe einzig propagandistischen Zwecken gedient. Wurden die jüdischen Zeugen instrumentalisiert?
Ich glaube nicht, dass die Zeugen sich diese Funktionalisierung andichten lassen würden. Die Politik, die in den Massenmord mündete, an dem Globke als Schreibtischtäter seinen Anteil hatte, hinterließ in ihrem Leben tiefe, schmerzhafte Spuren. Sie erhofften sich eine Verurteilung aller Täter im Sinne der Nürnberger Prinzipien. Warum sollte Globke davon ausgenommen werden?
Die Bundesrepublik hatte die Chance, über ihn zu richten. Es gab verschiedentliche Initiativen. Auch für einen Prozess in Bonn oder München hätten sich viele Zeugen zur Verfügung gestellt. Weil jedoch dieser unterblieb, trat dann die DDR in Aktion. Von dieser Tatsache soll das Gerede vom »Propaganda-Pozess« nur ablenken.

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