Eine Luke zur Welt

Dragan Velikic schaut durch ein »russisches Fenster«

  • Uwe Stolzmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Es gibt Bücher, die sich förmlich versperren, man kommt nicht hinein. Doch hat es der beharrliche Leser einmal geschafft, wird er belohnt – mit unerwarteten Funden. Die Bücher des Serben Dragan Velikic gehören zu dieser Spezies: postmodern verschlüsselt und verspielt, voller Verweise auf des Autors Leben und Prägung. Velikic plaudert gern, sprachlich auf hohem Niveau, klug und präzise. Er spinnt einen Faden und noch einen, nur der eine, der rote Faden verschwindet manchmal im Gewebe; das Erzählen scheint wichtig, nicht die Erzählung.

Velikic, Jahrgang 1953, hat Wandel und Weite erfahren, per Überlieferung, dann am eigenen Leib. Ein Großvater war bei der Bahn, der Vater Marineoffizier. Velikic kam in Belgrad zur Welt, aufgewachsen ist er in Pula an der Adria (heute kroatisch), die Gymnasiallehrer hatten ihre Bildung aus Innsbruck oder Wien. Während der Miloševic-Ära, in Serbiens bösen Neunzigern, wurde der Journalist zu einer Stimme der Opposition. 1999, kurz vor der Bombardierung der Metropole, hat er Belgrad verlassen, ging nach Budapest, Wien, Berlin, Exilant auf Zeit. Seit 2005 ist der Regimekritiker nun ein Offizieller, Botschafter seines Staates in Österreich.

Velikics jüngster, achter Roman heißt »Das russische Fenster«. Geheimnisvoller Titel. Ein Fenster im Fenster (Fortotschka heißt es im Russischen), eine Klappe, die für Frischluft sorgt, die Kälte aber draußen lässt. Luke zur Welt ist so ein Fenster – perfekte Metapher für die beiden Hauptfiguren des Buchs, zwei Männer, die fast aufgerieben werden zwischen südslawischer Selbstbeschränkung und polyglotter Offenheit.

Zwei Geschenke erwarten den geduldigen Leser im Roman: ein eindrückliches Bild der jugoslawischen Provinz und die These, Reisen könne zum Daseinszweck werden. (Es gibt, drittens, ein paar wunderbar schräge Lovestorys.) »Odrastao sam u malom gradu«, ich bin in einer Kleinstadt aufgewachsen, sagt ein Protagonist zu sich selbst (Rudi, ein Tagedieb, Versager, »Tourist im eigenen Leben«, er stammt aus der Vojvodina). Bitter klingt der Satz, auch fatalistisch. Der zweite Protagonist, Danijel aus Belgrad, ein Musiker Anfang fünfzig, umschreibt das Dilemma der Provinz knapp und poetisch: »Eine Kleinstadt ist eine Zwischenzeit, eine Pause, ein Kurort. Eine Kleinstadt existiert, damit man sie verlässt.«

Man kann, nein, man muss also reisen, um die wirkliche Welt zu sehen. Und da sie sich entzieht, sobald man sich nähert, muss mancher immer weiter. Dragan Velikic findet betörende Bilder für diese Obsession, Metaphern, zu Geschichten ausgebaut. Die Biografie der Musiker-Figur, in Ich-Form erzählt, wird vollständig am Begriff Reisen ausgerichtet. Als Junge glaubte Danijel an eine Reservierung im »Zug der Erwählten«, aber »wegen eines Fehlers im Fahrplan« lebte er auf einer »abgelegenen Station«, immer in der Hoffnung, doch noch »ins internationale Schienennetz« zu gelangen. Danijels Vater, so lesen wir (und denken an die Vita des Autors), war Kapitän, der Großvater Bahnhofsvorsteher in einem Balkannest, das der Simplon-Orient-Express passierte. Will der Musiker heute dirigieren, hört er statt des Orchesters das Pfeifen einer Lokomotive; die Dirigentenhand »setzt die Handbewegung meines Großvaters fort«. Jeder Mensch sei ein Waggon, er »wartet an Haltestellen und bleibt vor Signalen stehen, die er nicht vorherzusehen vermag. Er koppelt sich an und koppelt sich wieder ab, wechselt die Komposition und endet schließlich auf einem toten Gleis, auf Schienen, überwachsen von Unkraut.«

Velikic spinnt den Gedanken vom ewigen Traveller noch weiter: Danijel, böse Ironie, ist halb gelähmt, gehunfähig seit einem Unfall. Er kann gar nicht fort. Muss er auch nicht. Denn der wahre Reisende reist im Kopf. Danijels Vorbild heißt Karl May. Danijel sammelt Prospekte, Fahrpläne, Speisekarten; Immobilität, behauptet er, sei der Idealzustand – man könne alle Möglichkeiten gleichzeitig leben. Reisen, so das Fazit, »sind die enttäuschenden Versionen jener einzigen Reise in uns, der Reise vom Fenster zum Sessel, vom Tisch zum Bett«.

Ach ja, eine Handlung gibt es auch, der Essay wird doch noch Roman. Protagonist Rudi, der Tagedieb, möchte Schauspielerei studieren, dann Germanistik in Belgrad, er scheitert. Nun verdingt er sich als »professioneller Spaziergänger«; eine Zeitlang ist er Danijels Begleiter und Zuhörer, Rollstuhlführer gegen Honorar. Als ihm Ende der neunziger Jahre die Einberufung droht, wird Jung-Rudi zum Reisenden wider Willen, Emigrant in Budapest, München, Hamburg. Die beschämende Ahnung, auf immer Provinzler zu bleiben, nimmt er mit in die Welt. Und ein Gefühl, das er mit seinem Schöpfer teilt – überall nur auf der Durchreise zu sein, freiwillig oder nicht, Fahrender oder Flüchtling, wer kann das unterscheiden. Bisweilen telefoniert Rudi mit der Mutter daheim. Sie warnt ihn, er werde als Deserteur gesucht. Und übrigens, die NATO wolle Belgrad bombardieren. Und dann sagt sie: »Komm nicht zurück.«

Dragan Velikic: Das russische Fenster. Roman. Aus dem Serbischen von Bärbel Schulte. dtv. 400 S., brosch., 14,90 €.

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