Kitas und Kampfhunde

Ein Fernsehjahr. Eine Zeitreise

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 3 Min.

Für Fernsehfans hatte das Jahr nicht 365 Tage, sondern einen Tag. Genauer: 24 h Berlin. Ab 6 Uhr früh zeigte Arte im September 24 Stunden pralles Leben von 50 Hauptstädtern in Echtzeit, gefilmt von 80 Kamerateams. Ganz verfolgt hat das wohl keiner; wer sieht schon 1440 Minuten fern? Und doch war »24 h Berlin« brillantes Reality-TV und mancher meint, wenn Archäologen in 500 Jahren eine DVD finden, lernen sie mehr über uns als aus jedem Geschichtsbuch.

Das kann man vom Rest weniger behaupten. Angenommen, 2509 finden sie eine Filmrolle mit 24 Stunden RTL-Programm: Dokusoaps am Morgen, Dokusoaps nach Mittag, Dokusoaps bis zu den Daily-Soaps, dazwischen Reklame satt, schließlich »Bauer sucht Frau« und wieder: Dokusoaps, die längst fiktiv sind. Die Forscher müssen denken, wir seien infantile, schlichte Soziopathen. Zu dumm, dass RTL keine Ausrutscher moderner TV-Unterhaltung sendet; es ist Fernsehen, das fast alle liefern.

Wie besessen wird gecastet, renoviert, geulkt, erzogen, gekocht, emigriert, gekuppelt. Werden Maden gegessen, Frauen getauscht, Schulden getilgt, Verbrecher gejagt. Und seit Neuestem: Babys verliehen, an junge Leute aus schweren Verhältnissen. Kritiker verlangten zwar laut die Absetzung von »Erwachsen auf Probe«, doch Empörung ist prima Reklame.

Man sehnt sich fast zurück ins Jahr 1995, als kaum jemand am Bildschirm Sex mit Tieren debattierte, die Jugend ZDF statt seinen Ableger »neo« sah und der Pilot von »Alarm für Cobra 11« noch überraschte. 199 Folgen später annoncierte RTL Privatautos für die serienübliche Explosion. »Machen Sie Ihren Wagen zum TV-Star«, warb der Sender. Welche Bekanntheit der Schrott in spe wohl erlangt, nach all den ABC-Promis überall: VW-Prominenz?

Im »perfekten Promi-Dinner« kochten 2009 einmal Gisela Muth, Sarah Knappik, Michael Penners, Joe Bausch. Joe wer? Dann doch lieber Oliver Pocher. Der ist zwar nicht witzig, aber gewitzt. Seit dem Wechsel zu Sat.1 lacht er ohne Schmidt, aber für mehr Geld über sich selbst. Und hat keinen Apparat im Nacken, der schon mal heiß lief, wenn Pocher Graf Stauffenberg spielte.

Es ist denkwürdig, dass erst dies im Fernsehrat zur Erkenntnis führte, Pocher sei fürs Erste untragbar. Plumper konnte das System kaum vom Quotendesaster ablenken. Überhaupt: das System, es knackte gewaltig. Zum Beispiel der Fall von NDR-Fernsehspielchefin Doris Heinze, die heimlich eigene Drehbücher verkaufte. Später sägte der unionsdiktierte ZDF-Verwaltungsrat den renitenten Chefredakteur Brender ab, um gemeinsam mit dem sozinahen Rest den Merkel-Kuschler Peter Frey zu wählen. Außerdem: viel Zank um Posten, Pfründe und Product Placement.

So viel Medien in der Politik war selten. Zur Bundestagswahl aber kehrte Letztere in Erstere zurück. Es gab Kanzler-Casting (ZDF), Town-Hall-Meetings (RTL), Politiker-Speed-Datings (Phoenix), Sido ging bei Pro 7 wählen, und die Altlast Aust/Christiansen ging in die Sat.1-Arena. Nur Spannung kam nie auf. Eine Schlagzeile jedenfalls, die der »Bild« fürs Kanzlerduell auf vier Kanälen einfiel, passt auch bestens fürs ganze TV-Jahr: »Yes, we gähn«.

Trotzdem: Während das Wochenende auch öffentlich-rechtlich verlottert, zeigen Film-Perlen von »Willkommen zu Hause«, »Frau Böhm sagt Nein« oder »Kuckuckszeit« im Ersten bis »Entführt«, »Die Rebellin« und »Tod in der Eifel« im Zweiten, dass alltags für gute Fiktion selbst in der Primetime Platz ist.

In Reihe haben es Eigenproduktionen da schwerer. So wurde der unkonventionelle »Kommissar Süden« ohne Not vom ZDF aus dem Programm des Freitagabends gekippt, während das fade »Geld. Macht. Liebe« im Ersten endlos läuft.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal