Schicksale wie aus einem Füllhorn

Uraufführung im Deutschen Theater Berlin: »Diebe« von Dea Loher, inszeniert von Andreas Kriegenburg

  • Christoph Funke
  • Lesedauer: 5 Min.
An der Abbruchkante des Lebens – Jörg Pose als Versicherungsvertreter Finn Tomason
An der Abbruchkante des Lebens – Jörg Pose als Versicherungsvertreter Finn Tomason

Linda hat einen Wolf gesehen. Irgendwo am Rande der Stadt, wo bescheidenes Leben auf dem Spiel steht. Menschen gibt es hier, die keinen Grund unter den Füßen haben, Verratene, Getriebene, Verlorene, eingesperrt in Sehnsüchte und Wünsche, oder einfach in Langeweile. Dea Loher, 1964 im oberbayrischen Luftkurort Traunstein geboren, vielfach ausgezeichnet und hoch gefeiert, erzählt von diesen Menschen in ihrem für das Deutsche Theater Berlin geschriebenen Stück »Diebe«. Wie aus einem Füllhorn purzeln Schicksale, in denen Alltag gefangen ist, Gegenwart, Dasein wie auf Probe. Die Männer und Frauen eines im Ungewissen bleibenden ländlichen Raumes stehlen sich durchs Leben, »vorsichtig und scheu, als ob ihnen nichts davon gehören würde«. Etwa so: eine Verkäuferin freut sich auf die versprochene Beförderung – und wird entlassen. Der früher erfolreiche Versicherungsvertreter steht einfach nicht mehr auf und schließt mit dem Leben ab. Im Garten eines Ehepaares finden sich verräterische Spuren, vielleicht von einem Tier. Kaum erwachsen, muss ein vaterlos aufgewachsenes Mädchen über Abtreibung nachdenken. Und die nicht mehr taufrische quietschnaive Frau meldet – nach 43 Jahren – ihren Mann als vermisst.

Zwei Familien Tomason (nach japanischer Deutung bedeutet Tomason einen zwecklosen Gegenstand im öffentlichen Raum), die nicht miteinander verwandt sind, stehen im Zentrum dieser und anderer fragmentarischer Geschichten um Liebe, Geburt und Tod, um Arbeit, Armut und Alter, um Warten und Verzweifeln. Keine großen Geschichten, traurig manchmal und dann wieder heiter, oder auch absurd bis ins liebenswürdig Verrückte. Jedes Schicksal steht für sich, und doch gibt es immer ein Gelenk, wo sie ineinandergreifen.

Dea Loher bietet Möglichkeiten an, ihre Figuren sind wie Spielsteine, die sich nach unbekannten Regeln bewegen, und der Zuschauer ist aufgefordert, diese Regeln zu finden, zu akzeptieren. Merkwürdig ist dabei der Zwiespalt zwischen der sprachlichen Kraft, der Authentizität jeder einzelnen Begebenheit, und dem Ungefähr, dem Nebelhaften ihres Zusammenspiels, ihrer Anfänge und Enden. Die Dramatikerin schreibt in einer Sprache, die Wirklichkeit geradezu in sich hineinreißt und diese Wirklichkeit zugleich in der Schwebe lässt, als Vorstellung, als Angebot mit der Möglichkeit zu Deutung und Umgestaltung. Viel wird mitgeteilt über Anläufe zum Glück, über Aufbegehren und Versagen, und doch immer zu wenig, um gültige Schlüsse ziehen zu können. Gerade darauf kommt es Dea Loher an. Sie bietet keine Lösung an, der Zuschauer bleibt Souverän und Spielmeister. Er behält die Wahl, sich den Abenteuern der kleinen Leute aus unterschiedlichen sozialen Schichtungen mit Humor zu stellen oder mit der Trauer über die Vergeblichkeit so vieler, so ganz unterschiedlicher Versuche, Zugänge zu einem irgendwie sinnstiftenden Dasein zu finden.

Dabei ist alle lastende Bedeutsamkeit gemieden. Der Text behält Leichtigkeit, er ist rhythmisch und trickreich, wenn die Helden über sich in dritter Person berichten oder die Ereignisse und das eigene Handeln – auch im Rollenwechsel – kommentieren. Für Andreas Kriegenburg, den Regisseur und Bühnenbildner der Uraufführung, ist das eine ideale Voraussetzung. Er setzt in Bewegung um, in ein unaufhörliches Auf und Ab, was sich am Rande der Stadt zuträgt. Die Bühne zeigt ein Schaufelrad mit vier großen Speichen in drehender Bewegung nach oben oder nach unten. Das ermöglicht Vorgänge auf mehreren Ebenen, ein mähliches Auftauchen und Verschwinden der Figuren, die von der Senkrechten ins Waagerechte gehoben werden, wie fest verbunden mit den sich im Kreis hebenden und senkenden Decken und Wänden.

Von der Anstrengung, die das erfordert, ist nichts zu spüren, die Darsteller bewältigen den Wandel der Basis für Stehen, Sitzen, Schweben souverän, mit überlegener Selbstverständlichkeit. Und so entsteht ein Spiel, das in jedem Detail bestechend genau ist und immer im Fluss bleibt. Wenn Tisch und Stuhl und Sofa gebraucht werden, tauchen sie auf der unteren Ebene auf, wie von Geisterhand geschoben, und verschwinden wieder. Mitunter wird ein Ort an die Wand geschrieben, aber ein Ort bedeutet immer auch alle Orte. Die Drehung des Mühlrades ist entscheidend, der Wandel der Zeiten und Verhaltensweisen. Kriegenburg zielt in dieser Lust an Bewegung nicht zuletzt auch auf Unterhaltsamkeit und Zirkus, füllt die Umbaupausen mit melancholischem Jazz und wehmütig gefühligen Songs im Geschmack der 60er Jahre. Das macht die Härte mancher Geschichte allzu schmiegsam. Aber er verrät Dea Lohers Menschen nie, bleibt ihnen zugetan, in einem väterlich beruhigenden Verständnis.

Das Ensemble meistert die schwierige Aufgabe, »aus dem Stand« zu einprägsamen, unverwechselbaren Figuren zu finden, mit schwereloser Eindringlichkeit. Nur hingetupft sind die Eigenarten dieser ihr Selbst suchenden Menschen, aber in jeder Geste steckt das wunderbar Trotzige und kleinlich Schäbige eines Lebens im Schatten. Das Dutzend Darsteller gibt sich an das scheinbar Improvisierte aller Vorgänge mit Anmut und schwereloser artistischer Brillanz hin. Allerdings, im zweiten Teil treten Tempoverluste auf, der Text wirkt schwerfälliger, umständlicher, und dem Regisseur geht die selbstverordnete Unterhaltsamkeit aus. Angesichts böser schicksalhafter Wendungen der erzählten Geschichten, typisch für die Dramen der Dea Loher, ist heitere Skurrilität nicht mehr zu halten. Fast vier Stunden benötigt die Aufführung, da ist dann doch manche Selbstverliebtheit im Spiel.

Nächste Vorstellungen: 23. und 24. Januar.

Infos und Karten: www.deutschestheater.de

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