Absturz der Götter

Vor 20 Jahren wurden Mitglieder und Kandidaten des einstigen SED-Politbüros aus der Partei ausgeschlossen

  • Peter Kirschey
  • Lesedauer: 7 Min.

Die meisten der einstigen Götter sind tot. Von den wenigen, die noch leben, schaffen es zwei, hin und wieder in die Medien. Egon Krenz – weil er sich treu geblieben ist, sagen die einen; weil er ein Unbelehrbarer ist, sagen die anderen. Und Günter Schabowski – weil er ein Geläuterter ist, der aus der Geschichte gelernt hat, sagen die einen; weil er ein Verräter ist, der versucht, sich beim Klassenfeind einzuschleimen, sagen die anderen.

Über die anderen Mitglieder und Kandidaten des SED-Politbüros legt sich der Mantel des Vergessens. Kaum jemand erinnert sich an Margarete Müller, Genossenschaftsbäuerin und brave ewige Kandidatin im Olymp der DDR-Politprominenz. An Horst Dohlus, den gelernten Friseur und unauffälligen, doch mächtigen Mann im Parteiapparat. Oder an Joachim Herrmann, den neben Honecker unumschränkten Herrscher über die Medien der DDR, der festlegte, was gut und böse war, was richtig und falsch, was gesagt werden sollte und was nicht. Für sie alle war die Parteikarriere spätestens am 21. Januar 1990 – es war ein Sonntag – um 1.58 Uhr beendet.

Stundenlange Anhörungen

Durch Beschluss der Zentralen Schiedskommission der SED/PDS wurden in dieser Nacht aus der Partei ausgeschlossen: Margarete Müller, Werner Walde, Joachim Herrmann, Kurt Hager, Horst Dohlus, Alfred Neumann, Günter Schabowski, Heinz Kessler, Erich Mückenberger, Werner Jarowinsky, Inge Lange, Gerhard Schürer, Egon Krenz. Einer der Geladenen wurde nicht mit Ausschluss bedacht: Siegfried Lorenz, der einstige SED-Bezirkschef von Karl-Marx-Stadt. Und nur einer protestierte gegen den Ausschluss: Egon Krenz. Alle anderen fügten sich mehr oder weniger betroffen in ihr Schicksal.

Es war keine öffentliche Sitzung, doch es sollte nach den täglichen Enthüllungen von Privilegien und Machtmissbrauch Schluss sein mit der Heimlichtuerei, mit Verschweigen und Vertuschen. Die Öffentlichkeit sollte informiert werden über den Willen der neuen Führung um Gregor Gysi, einen Neuanfang zu starten. Deshalb war auch das ND an der Sitzung als Zuhörer beteiligt.

Nicht erschienen vor dem obersten Parteitribunal waren Erich Honecker, Willi Stoph, Horst Sindermann, Hermann Axen, Günter Mittag, Erich Mielke, Harry Tisch, Günther Kleiber und Hans-Joachim Böhme. Ihnen war bereits vorher die Mitgliedschaft entzogen worden; mancher von ihnen befand sich in Untersuchungshaft, mancher fehlte aus gesundheitlichen Gründen. Günter Mittag war schon im November 1989 durch die Zentrale Parteikontrollkommission ausgeschlossen, die in der Endphase der SED von Werner Eberlein geleitet wurde. Eberleins Vater Hugo war Wegbegleiter von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg und wurde in der Sowjetunion Opfer stalinistischer Repressalien. Ein Ausschlussverfahren wurde auch gegen Erich Honecker eingeleitet, doch sein Gesundheitszustand ließ keine Vorladung zu.

Nie zuvor hatte sich eine Partei auf diese Weise ihrer Spitze entledigt. Nicht um die Kollektivschuld des ehemaligen Politbüros ging es, sondern die individuelle Verantwortung jedes einzelnen Spitzenfunktionärs wurde in stundenlangen Anhörungen untersucht und beurteilt. Und so fiel die Entscheidung über den Parteiausschluss teils einstimmig, wie bei Hager und Herrmann, teils mit Stimmenmehrheit wie bei Schabowski und Krenz. Die Mitglieder der Schiedskommission, in einer dramatischen Zeit in dieses Amt geraten, taten sich sehr schwer, über die einstige Führung den Stab zu brechen. Waren doch einige der Vorgeladenen Kämpfer gegen Faschismus, die KZ und Emigration überlebt hatten, unter der sowjetischen Besatzungsmacht Aufbauhelfer der ersten Stunde. Und sie waren diejenigen, die mit der DDR eine lebenswerte Alternative zur verhängnisvollen deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts schaffen wollten.

Aus der Partei »neuen Typus« trat man nicht aus. Man gehörte einem Kampfbund, einer verschworenen Gemeinschaft an. Der Ausschluss war die härteste Strafe, die ein Mitglied treffen konnte, gleich einer Verurteilung wegen Schwerstverbrechen. Es war auch nicht das Parteibuch, das man verlor, es war »das Dokument«. In der Regel waren es bis dahin »gesundheitliche Gründe« gewesen, die Personalentscheidungen nach innerparteilichem Machtkampf verschleierten. Diesmal aber fand eine öffentliche, schonungslose Abrechnung mit der Führung statt.

Mit Günther Wieland hatte die Schiedskommission einen erfahrenen Juristen an der Spitze, von 1963 bis 1990 als Staatsanwalt bei der Generalstaatsanwaltschaft der DDR speziell mit der Verfolgung von Nazi- und Kriegsverbrechern beschäftigt. Von Dezember 1989 bis Januar 1991 war der schwer kranke Mann Vorsitzender der Schiedskommission.

Weit entfernt von den Sorgen des Volkes

In der Nacht vom 20. zum 21. Januar 1990 mussten er und die anderen Mitglieder der Kommission Entscheidungen treffen, die noch Wochen zuvor unvorstellbar gewesen wären. Für Joachim Herrmann nahm sich die Kommission 41 Minuten Zeit. Er war es, der über die Agitationskommission das Mediendiktat durchsetze und keinerlei Freiräume gestattete. Ausführlich referierte er über die »Positivberichterstattung« als Grundfeiler der Presse- und Medienpolitik. Auch Kritik sollte darin ihren Platz haben, Kritik durch das positive Beispiel. Indem wir das Positive lobten, kritisierten wir das Kritikwürdige, so seine Logik. Da war kein Platz für gesellschaftliche Auseinandersetzung, Konflikte, herangereifte Probleme. Für ihn gab es nur Befehle, in klassenkämpferische Losungen verpackt, Widerspruch wurde nicht geduldet. »Deine Parteimitgliedschaft ist beendet«, erklärte Wieland nach kurzer Beratung. Die Begründung: elementare Verletzung des Statuts.

Am Rande tauchte die Frage auf, warum Herrmann nicht schon im November ausgeschlossen wurde, obwohl er schon damals als einer der Hauptverantwortlichen für den Niedergang der DDR ausgemacht wurde. Die Antwort war simpel: Sein Name war in den dramatischen Tagen des November 1989 einfach untergegangen. So erfolgte sein Ausschluss erst am 20. Januar 1990 kurz vor Mitternacht. Einstimmig.

Nach ihm stand Kurt Hager Rede und Antwort, dem Gesellschaftswissenschaften, Kunst und Kultur unterstanden. Repressalien gegen Künstler und Kulturschaffende, Verbote von Kunstwerken und Literatur, die destruktive Rolle der Gesellschaftswissenschaften und weiße Flecken in der Geschichtsschreibung lastete die Schiedskommission ihm an. Hager leistete keine Gegenwehr, alle Antworten gerieten zu einem Referat. Wie weit, musste sich Kurt Hager fragen lassen, habe sich die Führung vom Volk entfernt, wenn sie dessen Sorgen und Probleme einfach nicht mehr wahrnahm. »Ich war nur einer von vielen auf diesem Gebiet«, ließ er die Kommission wissen, Diskussionen zu Grundfragen der Zeit seien im Machtzentrum nie geführt worden. Auch bei seinem Parteiausschluss gab es keine Gegenstimme.

Die letzten in dieser Nacht waren Günter Schabowski und Egon Krenz. Sie hofften auf eine andere Bewertung – schließlich seien sie es gewesen, die den Sturz Honecker initiiert hätten. Immer wieder baten sie um Verständnis für ihre schwierige Lage, suchten nach Erklärungen. Doch der Schiedskommission ging es nicht um die Zeit, als der Niedergang der DDR nicht mehr aufzuhalten war. Sie hätten genauso wie die anderen Schuld für gravierende Fehlentwicklungen auf sich geladen.

Mitglieder waren politisch entmündigt

In der Begründung der Parteiausschlüsse heißt es, die einstigen Politbüromitglieder trügen »durchweg persönliche Verantwortung für die existenzbedrohende Krise in der Partei und im Land«. Sie hätten maßgeblich dazu beigetragen, dass die damalige Parteiführung »sich immer mehr vom Volke und von der Parteibasis entfernte und ihre Tätigkeit – im eindeutigen Gegensatz zum Statut – von Subjektivismus, Egoismus, Lobhudelei, Schönfärberei und der ständigen Verletzung des Prinzips der Kollektivität geprägt war«. Weiter hätten sie zu verantworten, »dass die Mitglieder der Partei politisch entmündigt und aus den innerparteilichen Entscheidungsprozessen total ausgegrenzt wurden und so die gesamte damalige SED einer immer mehr zunehmenden bürokratischen Zentralisierung und Reglementierung unterlag«. In gleicher Weise hätten sie entscheidenden Einfluss auf das politische Leben in der DDR ausgeübt. Zudem hätten mehrere Mitglieder des früheren Politbüros »ungerechtfertigte Privilegien« in Anspruch genommen.

Der 20./21. Januar 1990 war eine späte Zäsur. Auch Enttäuschung und Wut prägten die Sitzung der Schiedskommission – eigentlich schlechte Ratgeber, um ein gerechtes Urteil zu fällen. Doch die Zeiten waren so. Dramatisch, hektisch, unberechenbar. Sie verlangten sofortiges Handeln, wenn es der Partei gelingen sollte, den Absturz zu überleben. Nur so ist diese lange Nacht aus heutiger Sicht verständlich.

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