Worte, Welt und Winter

Kant über Kohlhaase

  • Lesedauer: 3 Min.
Gestern erhielt Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase den Goldenen Ehrenbären für sein Lebenswerk. Gezeigt wurde der DEFA-Film »Der Aufenthalt« (Regie: Frank Beyer) – nach dem Roman von Hermann Kant. Für ND schrieb Kant eine sehr persönliche Laudatio auf den Preisträger.

Weil man mit berühmten Freunden gar nicht genug angeben und gute Freunde gar nicht genug rühmen kann, und weil wir gerade diesen apropos-stiftenden Schnee haben, sage ich: Den gab es Mitte der Sechziger zwischen Oldenburg und Wilhelmshaven derart reichlich, dass man keine Straßenmarkierung mehr sehen konnte und Wolfgang Kohlhaase, mit dem ich in Sachen Literatur unterwegs war, vorausstapfen und das Auto und mich über die Fahrbahn lotsen musste. Nicht die ganze Strecke bis zum Jadebusen, aber doch ein nennenswertes Stück davon.

Wesentlich frostiger als in Niedersachsen ging es kurz nach dem 11. ZK-Plenum in Sachsen zu, wo sich Erik Neutsch auf dem Weg zur Vorstandssitzung im verschneiten und vereisten Dresden das Bein brach und unterm Krachen seines Knochens rief: »Das kommt mir sehr zupasse, Kameraden!« – Nach einer haarigen Sitzung äußerte sich Wolfgang auf der haarigen Autobahn wenig über den Umstand, dass zu den parteiamtlich verdammten Werken auch sein »Berlin um die Ecke« gehörte. Ausführlicher behandelte er Eriks Fall-und-Knall-Ausspruch und die Frage, wie sich solch rare Gegenwart des Geistes in einem Film glaubhaft wiedergeben lasse.

Eines anderen Winters sind wir als Delegation nach Warschau gefahren. Weil beim polnischen Bruderverband gerade Bruderzwist herrschte, schickte man uns in den Schnee von Zakopane. Bei Kaffee, Schach und Zubrówka ist uns die Zeit rasch vergangen, und zurück in Warschau konnte ich dem Mitdelegierten gerade noch in aller Eile das Gefängnistor zeigen, hinter dem ich eine Weile ohne Kaffee und Zubrówka zugebracht hatte.

Dafür tafelte uns dann im Zug von Warschau nach Berlin ein beglückt beredter Schlafwagenschaffner von seinen alleredelsten Speis-und-Trank-Reserven auf. Nicht etwa, weil er in dem Reisenden Kohlhaase den künftigen Inhaber des Goldenen Ehrenbären der Internationalen Berlinale und somit vorerst weltweit einzigen so ausgezeichneten Drehbuchautor ausgemacht hatte, sondern weil er in seinem Mitropa-Gast den einstmals ruhmreichen Fußballspieler der Roten Teufel von Adlershof erkannte.

Bei so viel Schnee mag es hingehen, dass lediglich Schmuddelwetter herrschte, als wir 1962 auf Einladung von Hamburgs Uni-AStA zu einer DEFA-Filmdelegation gehörten. Außerhalb des Programms nahmen wir an zwei Erstaufführungen der Kulturgeschichte teil. Zum einen lief am Neuen Wall knapp vor unserer Rückfahrt Ingmar Bergmans »Schweigen« an, wozu Günter Reisch die Karten besorgte. Als wir zu ihm stießen und den Regisseur an der Tete einer gewaltigen Warteschlange vor der Kinokasse sahen, sprach Wolfgang in der alsternahen Shoppinggasse das Lenin-Wort: »Wenn sich eine Bewegung nicht aufhalten lässt, muss man sich an ihre Spitze stellen!«

Was er bei der anderen Premiere, die eine wirkliche Weltpremiere war, gesagt hat, weiß ich beim besten Willen nicht, weil im Star-Club auf der Großen Freiheit das schiere Gegenteil von Schweigen herrschte. Erzeugt wurde es von einigen jungen Männern, die sich The Beatles nannten. Vielleicht hat der mehr als belesene Autor – die Lautstärke gab das her – an die Kanonade von Valmy gedacht und mir mitteilen wollen, wir könnten sagen, wir seien dabeigewesen.

Ja, wir sind dabeigewesen, und gestern beim Fest für den Filmschreiber im »International« an der Karl-Marx-Allee war ich es nicht minder. – Apropos Schreiber, begeisterter Leser Kohlhaases bin ich seit zweiundsechzig Jahren. Im Arbeitslager Warschau – wieder dieses Warschau – geriet ich an eine seiner Geschichten. Und bin seither mit großem Gewinn bei Regen, Sonne oder Schnee bei seinen Erfindungen dabei.

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