»Ahmed wird abjezogen«

Einbürgerungstest im prime time theater

  • Lucía Tirado
  • Lesedauer: 3 Min.

Neben der schwarz-rosa-goldenen Fahne picken Heidemarie Schinkel, Leiterin des Arbeitsamtes Wedding, und ihr Mann Ahmed Ölgür für den Einbürgerungstest eifrig ihren Einbürgerungstext in die Tastaturen. Dafür sind die beiden Weddinger mit ihrem Trabant extra nach Karlsruhe getuckert. Doch nur einer von ihnen besteht den Test. Das wird in der Theatersitcom »Gutes Wedding, schlechtes Wedding« (GWSW) noch weit reichende Folgen haben.

Die »Verabschiebung« in Constanze Behrends erfolgreicher Geschichte der türkisch-sächsischen Sippe Ölgür-Schinkel und ihrer Nachbarn feierte als Folge 62 Premiere. Frau Schinkel, die noch mit ihrem DDR-Ausweis und sozialistischem Führerschein herumkurvt, wusste natürlich, woher der Wind weht. Aber für Ahmed musste Postbote Kalle das amtliche deutsche Schreiben zur drohenden Abschiebung ins Verständliche übersetzen. Ahmed soll in die Türkei abreisen. Und zwar fix. Seine Dönerbude »Chez Ölgür« werde FDP-freundlichen Wählern überschrieben. Kalle fasst zusammen: »Ahmed wird abjezogen.«

Verdient haben er und sein Weib Heidemarie das nicht. Sie erziehen ihre Kinder anständig. Im Film erscheinen auf der Leinwand die Zwillinge Walter und Ulrich (dargestellt von Lillit und David), wie sie aus Tassen mit dem Aufdruck »Neues Deutschland« trinkend eifrig das Wort Deutschland üben. Ereignisreich und schnell ist die 62. GWSW-Folge, deren Handlung von Geschehnissen in Indien bis in die westliche Uckermark reicht. Die Autorin variiert im Ton. Diesmal bedient sie sich freundlichen Spotts.

In der Folge zuvor »Drei Bewerber keine Chance« ging es einen Zahn schärfer zu. Das war angemessen. Spitzzüngig wurden dem Folgentitel als Vorlage dienende TV-Sendungen und ihre Protagonisten karikiert – bis hin zur Botox-Halsentfaltung und der dadurch piepsiger werdenden Stimme. Ronja aus der Uckermark konnte als Model-Bewerberin mit der Salat-Ration eines Meerschweinchens knapp dem Verhungern und ihrer »Verklumung« bei TV-Heidi entkommen.

GWSW beruft sich als erste Theatersitcom auf eine Mischung aus den Serien »Friends«, »Simpsons« und Weddinger Lokalpatriotismus. So heißt beispielsweise eine Enkelin Ölgürs nicht von ungefähr Hülia-Lisa – nach der türkischen Großmutter und Lisa Simpson benannt.

Die Autorin gibt den Weddinger Kieztypen zwar gerade die bei den Simpsons so geliebten menschlichen Schwächen mit, übernimmt aber nicht den finsteren Simpsons-Humor. Dafür lässt sie den Berliner Witz wirken. Der hat es schließlich auch in sich. So trifft das prime time theater den Ton, der Erwachsene aller Altersgruppen zu den Vorstellungen zieht und auch im größten Schneegestöber für ausverkaufte Vorstellungen sogar am Wochenbeginn sorgte. Mehr und mehr Touristen tauchen auf, die sonst sicher keinen Schritt nach Wedding getan hätten.

»Was bisher geschah...« stimmt sie auf der Leinwand filmisch ein. Bei den Premieren allerdings erobert sich gnadenlos das aus allen Bezirken Berlins kommende Stammpublikum die Plätze. Kein Wunder. Die Liebe zu den von Jenny Bins, Alexander Ther, Oliver Tautorat, Constanze Behrends, Felicitas Vajna und Kaan Satik gespielten Figuren hat sich auf die Zuschauer so intensiv übertragen, dass sie nichts anderes sehen wollen. Lediglich Behrends Krimi-Versionen und ein Weddinger »Sommernachtstraum« nach Shakespeare wurden ohne Murren und Knurren akzeptiert.

So ist GWSW mit seinen Helden fürs prime time theater so etwas wie eine Entscheidung fürs Leben. Denn die Geister, die die Autorin rief, haben die Sache mit Berliner Sturheit fest in der Hand. Auch beim besten Kritikerwillen gibt's nix zu meckern. Immer neu wird man überrascht. In Folge 63 wird es um »Ärzte Hilfe« für Weddinger und Prenzlberger gehen. Danach muss Frau Schinkel in Folge 64 Westdeutsch lernen und landet im »Kampftrinkerlager«

Fr.-Di., 20.15 Uhr, prime time theater, Müllerstr. 163, Wedding, Tel.: 49 90 79 58, Infos unter www.primetimetheater.de

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