• Kultur
  • Beilage zur Leipziger Buchmesse

Fieberkurve

POLINA DASCHKOWA: Moskauer Morde

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 4 Min.

Alle großen literarischen Überlieferungen von Gesellschaft sind Krimis: »Ilias«, »Odyssee«, »Nibelungen«. Umgekehrt sind die besten Kriminalromane immer auch Gesellschaftsromane – dafür bürgen George Simenon, Raymond Chandler, Agatha Christie, Batya Gur, Henning Mankell, Arnaldur Indridason. Auf der aktuellen Weltrangliste der Krimiautoren ziemlich weit oben steht Polina Daschkowa, genannt die »Krimi-Zarin«. Keine beschreibe das »moderne« Russland so packend wie Daschkowa, heißt es. Packend schreibt sie unbestritten: Wer mit einem ihrer Krimis zu Bett geht, der entscheidet sich dafür, in dieser Nacht auf Schlaf zu verzichten. Was das »moderne« Russland betrifft, so ist das Russland nach Gorbatschow gemeint: das Russland der neuen Reichen, der neuen Oligarchen, der Korruption, das Russland, in dem Staatsmacht, FSB und Kriminelle oft miteinander verquickt sind. Krimis wie »Die leichten Schritte des Wahnsinns«, »Club Kalaschnikow« oder »Russische Orchidee« sind bei Aufbau erschienen.

Nun also »In ewiger Nacht«. Diesmal geht es um Pädophilie und um einen Serienmörder. Die Psychiaterin Olga Filippowa und ihre Jugendliebe Kommisar Dmitri Solowjow bringen ihn schließlich zur Strecke, was sonst. Mehr sei darüber nicht verraten. Nur so viel: Daschkowa streut Verdachtsmomente, legt kleine Fährten für ihre Leser, doch die eigentliche Kriminalhandlung – hochaktuell vor dem Skandal, der die katholische Kirche erschüttert – könnte überall spielen. Dass es dennoch ein russischer Krimi wird, liegt an Polina Daschkowas Kunst, mit sicherer Hand Psychogramme zu zeichnen, Schicksale und Lebenswelten. Ihre Heldin Olga zum Beispiel reibt sich auf zwischen Haushalt, Nachwuchs und Klinik, deren Chefarzt sie auffordert, dem Sohn eines einflussreichen Mannes die Habilarbeit zu schreiben. Olga weist das Ansinnen von sich: Von ihr ist noch einiges zu erwarten.

Da ist die Mutter eines ermordeten Mädchens. Eine verblühte, enttäuschte Schönheit, eine »abgenutzte Barbie«. Mit eigenem Unglück beschäftigt, wusste sie kaum etwas von ihrer Tochter, außer dass die sich vorwiegend »von Äpfeln und grünem Salat ohne Öl« ernährte, weil sie Model werden wollte. Was sollte ein Mädchen auch sonst werden wollen? Eine Fünfzehnjährige, gierig nach Aufmerksamkeit und Liebe, scheinbar Glück verheißendem Geld und der Welt der Prominenz, die der Vater verkörpert? Der ist ein abgehalfteter Schlagerstar, das Verfallsdatum längst überschritten, der sich immer jüngere Barbies sucht, um Bestätigung zu finden: Frauen über fünfundzwanzig sind alt für ihn. Typisch russisch? Ach, woher denn! Aber nun, im »modernen« Russland, ist dies alles salonfähig.

Ein weiterer Schlagerstar spielt eine Rolle. Das Mädchen glaubte, in ihn verliebt zu sein. Er ist jünger als ihr Vater und über die Maßen »angesagt«: Kreischkonzerte bei seinen Auftritten. Die morbiden Texte seiner Balladen begeistern die Teenies. Als hätte man Hunde von der Kette gelassen. Hauptsache anders, schrill, »modern«. Russland war nie ein modernes Land. Nun will es nachholen, aufholen, absahnen. Alle Segnungen des Westens scheinen endlich angekommen, nur toller, dreister, dekadenter. Dem Russland nach Gorbatschow blieb keine Zeit, erwachsen zu werden.

Aus der Mode gekommen dagegen ist der alte Lehrer Boris Rodezki. Ein Schreibtisch steht in seinem Arbeitszimmer. Der Schreibtisch hat »drei Kriege und Tausende korrigierter Schulaufsätze mitgemacht«. Nun ist ein Computer darauf platziert, ein Geschenk von Rodezkis Sohn. Im Internet stößt der alte Lehrer zufällig auf eine pornografische Seite, die ihn in schwere Konflikte stürzt: Er erkennt eine Schülerin. Wie soll er damit umgehen? Er ist vom Schlag jener Pädagogen, die sich für die jungen Menschen, die man ihnen anvertraut, noch verantwortlich fühlen. Doch sein Verantwortungsbewusstsein scheint deplatziert. Es bringt ihn nur in Schwierigkeiten. Daschkowa macht uns bekannt mit kleinen Ganoven, eiskalten Killern, gutsituierten Geschäftsleuten, die sich hinter Nabokov verschanzen, wenn sie sich eine Lolita leisten. Der Psychopath: das Ungeheuer? Das Zusammenspiel der Figuren zeigt die Fieberkurve der russischen Gesellschaft. Da ist es dann nicht mehr ganz so wichtig, dass die Lösung des Falls arg konstruiert wirkt. Wie hier Schein und Sein auseinanderklaffen – im Finale ist es auf die Spitze getrieben.

Polina Daschkowa, Jahrgang 1960, hat am Moskauer Gorki-Literaturinstitut studiert und als Dolmetscherin und Übersetzerin gearbeitet. In einem Interview verriet die hochproduktive Autorin, dass sie in der Lage sei, einen Roman in nur drei Wochen zu schreiben. Während ihre deutschen Leser also »In ewiger Nacht« lesen, könnte im Moskauer Astrel Verlag bereits ihr nächster Krimi vorliegen.

Polina Daschkowa: In ewiger Nacht. Roman. A. d. Russ. v. Ganna-Maria Braungardt. Aufbau Verlag. 420 S., geb., 19,95 €

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