Jenseits der Latte-Macchiato-Grenze

In Lichtenberg gibt es entgegen des Klischees viel Kultur zu entdecken

  • Caroline Bock, dpa
  • Lesedauer: 3 Min.

Vietnamesische Familien schlürfen Suppe. Ein Händler wirbt für die Ausstattung von Nagelstudios. Auf dem Tisch im Restaurant türmen sich Frühlingsrollen und Ente kross. Was hat dieser asiatische Großmarkt mit Kultur zutun? Einiges, findet Staatssekretär André Schmitz. Er denkt, dass die Ausländer in der Stadt in den Medien zu oft nur als Problem vorkommen und nicht als Zeichen kultureller Vielfalt. Und der Bezirk Lichtenberg? Da fallen den Berlinern Plattenbauten und Neonazis ein. Und, wenn es hochkommt, noch der Sturm auf die Stasi-Zentrale 1990.

Zeit also für einen Blick jenseits der Klischees. In Berlin ist es ein Sport, über das Trendpotenzial von Bezirken zu spekulieren. Der Norden Neuköllns ist von amerikanischen Globetrottern entdeckt und szenetechnisch fast schon wieder abgegrast. Auch der Bezirk Wedding ist kein Geheimtipp mehr. Als nächstes könnte sich das an Friedrichshain grenzende Lichtenberg anbieten.

»Nicht alle Kultur findet in Berlins Mitte statt«, sagt Schmitz, der nach Regierungschef Klaus Wowereit der einflussreichste Kulturpolitiker der Stadt ist. »Be Berlin. Sei Lichtenberg«, steht hoffnungsfroh auf den Infomappen, die bei einer Bezirkstour des Senats verteilt werden. Na dann.

Die ersten Studenten und jungen Familien sind bereits in den einstmals als rechte Ecke verschrienen Kiez nahe des Ostkreuzes gezogen. Ein Vorzeige-Pionier in Lichtenberg ist Steffen Schuhmann vom Kreativzentrum »Heikonaut«. In einem ehemals leerstehenden Kindergarten in Friedrichsfelde arbeiten Autoren, Fotografen, Künstler und die schon recht bekannten Modedesignerinnen von C. Neeon.

»Wir verdrängen hier niemanden«, sagt Schuhmann. Eigentlich ist es eine langweilige Gegend, kein Latte Macchiato weit und breit. Dafür haben die »Heikonauten« eine eigene Espressomaschine, eine Tischtennis-Platte im Garten und sie begegnen auf dem Weg zur Arbeit Eichhörnchen. Die Nachbarn mögen es, dass sich die jungen Leute um den Garten kümmern. »Wenn man hier den Rasen mäht, ist man angekommen«, erzählt Schuhmann.

Auch in das brachliegende Theater von Karlshorst soll bald wieder Leben einziehen. Eine Berliner Schauspielschule will die Bühne nutzen. Musikschulen, Museen, Ateliers, Galerien, Schlösser, Villenviertel, Gedenkstätten und sogar die erste deutsche Schule für muslimische Prediger: In Lichtenberg gibt es einiges zu entdecken. Man muss allerdings sehr genau wissen, wo. An den kilometerlangen Plattenbau-Straßen fühlt man sich leicht gestrandet. Dass der Bezirk seine Probleme hat, ist in einer Bibliothek zu sehen: Die Toiletten sind wegen Vandalismus geschlossen.

Lichtenberg – zu dem seit der Bezirksreform im Jahr 2001 Hohenschönhausen gehört – ist ein geschichtsträchtiger Boden: In Karlshorst wurde das Ende des Zweiten Weltkrieges besiegelt. Was mit dem ehemaligen Ministerium für Staatssicherheit in der Normannenstraße passieren wird, ist offen. Architekturfreunde pilgern zur Max-Taut-Schule oder zum Haus von Mies van der Rohe in der Oberseestraße. So modern zeigte sich »Mies«, wie ihn die Experten nennen, in Berlin sonst nur an der Neuen Nationalgalerie. Das Haus, 1932 errichtet, ist international bekannter als in Berlin selbst – vielleicht, weil es etwas abseits liegt und viele Hauptstädter gern in ihrem Viertel bleiben.

Ein Ausflug zu dem deutschlandweit größten Asienmarkt namens Dong Xuan ist eine Reise in eine andere Welt – fast ein bisschen wie in New Yorks Chinatown. Man kann sich mit Drachenfrüchten, Koriander-Büscheln, Zeitungen aus Hanoi und Plastik-Fingernägeln eindecken. Die zehn Hallen auf einem ehemaligen Siemens-Gelände gehören dem Unternehmer Nguyen Van Hien. Er sagt, dass er noch viele Millionen Euro investieren will. Auch das verfallene Kulturhaus auf dem Gelände will er wieder nutzen. Als Nguyen das sagt, werden die Politiker am Restaurant-Tisch neugierig.

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