Leiche im Keller

Sam Shepards »Buried Child« im English Theatre Berlin ist noch immer aktuell

  • Anouk Meyer
  • Lesedauer: 3 Min.
April Small als Shelly
April Small als Shelly

Etliche Inszenierungen im auf englischsprachige Produktionen spezialisierten English Theatre in Kreuzberg sind durchaus für Menschen geeignet, die der englischen Sprache nur eingeschränkt mächtig sind oder lediglich ihr altes Schulenglisch beherrschen. Anders bei »Buried Child«, zu deutsch »Vergrabenes Kind«, dem neuesten Streich der Truppe. Zu dialoglastig und subtil ist die Umsetzung von Sam Shepards bissigem Familiendrama geraten, als dass der Zuschauer allzu viel verpassen dürfte. Mit den entsprechenden Sprachkenntnissen ist aber ein gelungener Theaterabend garantiert.

Dabei ist das Stück um eine Farmerfamilie im Mittelwesten der USA, deren Mitglieder ihre Schuldgefühle nach einem gemeinsamen Trauma auf unterschiedliche Weise zu verdrängen versuchen, mehr als 30 Jahre alt. Staub hat es trotzdem nicht angesetzt. Die Art und Weise, wie Shepard die US-Gesellschaft und ihren naiven Glauben an den »amerikanischen Traum« kritisiert, ist in weiten Teilen heute so aktuell wie Ende der 70er Jahre. Seinem Schöpfer brachte das 1978 uraufgeführte Stück ein Jahr später den Pulitzer-Preis und internationale Anerkennung.

Die Koproduktion von English Theatre Berlin (ET) und 7 Stages aus Atlanta setzt in der Inszenierung von Regisseurin Veronika Nowag-Jones ganz auf Shepards realistisch geprägten Text und die großartige Schauspielkunst ihrer Darsteller, allen voran Del Hamilton als alkoholabhängiges Familienoberhaupt Dodge. Der tyrannisiert von seinem Sofa aus den Rest der Sippe: seine Frau Halie, die sich in die Religion geflüchtet hat und den Großteil der Tage im oberen Stockwerk des alten Farmerhauses verbringt, die erwachsenen Söhne Tilden und Bradley – der eine ein ehemaliges Football-Talent, stumpf und in sich gekehrt, der andere ein unberechenbarer Versager, der sein linkes Bein an eine Kreissäge verloren hat.

Als eines Tages Tildens Sohn Vince mit seiner Freundin Shelly unangekündigt in seinem Elternhaus auftaucht, das er die letzten sechs Jahre gemieden hat, bringt er den Status quo in Gefahr. Niemand scheint ihn zu erkennen, und auch er steht vor einem Rätsel: Welches dunkle Geheimnis hat das Familienleben dermaßen aus den Fugen gebracht? Freundin Shelly ist ebenfalls geschockt; statt der liebevollen Farmerfamilie, die sie erwartet hat, findet sie sich in einem Kreis merkwürdiger Fremder wieder, die einzig das Leugnen der Vergangenheit zu verbinden scheint.

Nur ganz allmählich kommt das Trauma der Familie ans Licht. Halie hatte vor Jahren ein Verhältnis mit dem eigenen Sohn Tilden und bekam ein Baby von ihm, das ihr Mann Dodge umbrachte und im Hinterhof vergrub. Seitdem liegt das Gefühl der Schuld auf der Familie wie eine schwere Decke, die jede Bewegung hemmt.

Der international bekannte Autor und Schauspieler Sam Shepard ist selbst auf einer Farm im mittleren Westen aufgewachsen und kann Sprache und Rituale der einfachen Farmerfamilie authentisch wiedergeben. Die Beziehung zu seinem alkoholabhängigen Vater hat er in etlichen Dramen verarbeitet; sicher auch deshalb ist die Figur des Dodge – mit kraftvollem Zynismus toll gespielt von Del Hamilton – diejenige, die sich in der Inszenierung am stärksten einprägt.

Sein Gegenpart ist weniger Enkel Vince (Tomas S. Spencer), der dem Irrsinn erst mit flapsigem Witz und dann mit zeitweiliger Flucht begegnet, sondern vielmehr dessen Freundin Shelly (April Small), die im Lauf des Stücks die Rolle des kichernden »American Girl« ablegt und dem alten Mann sein finsteres Geheimnis entlockt.

Gut gesetzte Schlagzeug-Einsätze von Errol T. Harewood, der auch einen Auftritt als Pfarrer hat, und ein stimmungsvolles Bühnenbild ergänzen das zwischen bösem Sarkasmus, Wut und Trauer schwankende Bühnenstück, an dessen Ende dann aber doch ein Hoffnungsschimmer steht.

22.-24. April, 27.4.-2.5., 20 Uhr; English Theatre, Fidicinstr. 40

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