Die Ersten werden die Letzten sein. Werden die Letzten die Ersten sein?

Noch einmal HDF

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 8 Min.
Die Ersten werden die Letzten sein. Werden die Letzten die Ersten sein?

Das Jahr vor dem Ende der DDR hatte Hans-Dieter Fritschler zu einer republikbekannten Persönlichkeit gemacht: Mit dem Erscheinen von Landolf Scherzers »etwas zu lang geratenem Zeitungsartikel«, der »auch wegen seiner Länge noch nicht in unsere Zeitungen passte«, war aus dem Ersten SED-Kreissekretär von Bad Salzungen Hans-Dieter Fritschler »Der Erste« geworden.

Scherzers »Erster« – ein Bestseller. Bückware dennoch. Sechs Jahre lang hatte der Journalist und Schriftsteller warten müssen, ehe er von offizieller Stelle endlich die Erlaubnis erhielt, Hans-Dieter Fritschler zu begleiten. Wir lasen das schmale Büchlein zugleich als Metapher und als Porträt. »Der Erste« – das war einerseits ein mit Machtfülle ausgestatteter Provinzfürst, andererseits ein Ohnmächtiger. Ein Manager der Berliner Macht, beauftragt, deren soziale Träume zu verwirklichen. Manch- mal sah das so aus: Zahnpasta oder Buttermilch für den Kreis beschaffen. Wehe, er beschaffte sie nicht.

»Der Erste«, das war HDF. So nannten ihn Gleichgesinnte, Freunde. So firmierte er im Koordinatensystem der Macht: Junge, du bist einer von uns, enttäusche uns nicht! HDF enttäuschte nicht. Er teilte die sozialen Träume, es waren auch seine. Er beschaffte Zahnpasta, Buttermilch. Ein Machtmensch war der gelernte Forstfacharbeiter nicht. Nie war er mit zur Jagd gegangen, nie am Schwatz danach beteiligt, nie hatte er eigenen Vorteil gesucht. Wodurch er sich durchaus von manchen Amtsgenossen unterschied.

*

Frühjahr 1990. Verspielt die Macht, geplatzt die Träume. Es gab keine »Ersten« mehr. Selbst einer wie HDF musste gehen. Über die Aufzeichnung des Gesprächs, das ich mit ihm in Bad Salzungen führte, schrieb ich denn auch: »Der Erste geht«. Fritschler trug noch den grauen Anzug, von dem Landolf Scherzer meinte, er passe nicht zu seinem Jungengesicht. Nun passte das Gesicht zum Anzug – die FDJ-Frische, die er sich im SED-Amt bewahrt hatte, war tapferem Ernst gewichen.

HDF hatte sein Zimmer in der früheren Kreisleitung, dem »Weißen Haus« von Bad Salzungen, geräumt. Keine Anrufe, keine Weisungen mehr von Zentralkomitee oder Bezirksleitung, kein »Apparat« stand ihm mehr zur Verfügung. Keine Termine mehr in Betrieben, in Gemeinden und bei Räten, keine Foren mehr bei der NVA, keine Planabsprachen, Konsultationen, keine Vorträge, »Feuerwehreinsätze«.

Es war ein gutes, ein ehrliches Gespräch, damals, vor zwanzig Jahren im Mai. Gute, ehrliche Gespräche mit einstigen SED-Kadern waren vor zwanzig Jahren selten und sind es bis heute geblieben. Anfangs mag es der Schock gewesen sein, der Schock über die Implosion, die sie nicht hatten kommen sehen, der viele von ihnen verstummen ließ. Später auch die Unfähigkeit, sich Selbstgerechtigkeit einzugestehen, der Wunsch, das Selbstbild nicht zu beschädigen. Und heute, da jenes Gesellschaftssystem, welches doch immerhin ein Versuch war, gnadenlos verteufelt wird, während sich ein anderes heilig spricht, scheint kein Grund mehr zu bestehen, in sich zu gehen. Ja, es scheint geradezu geboten, den Versuch zu verteidigen und sich damit selbst in Schutz zu nehmen.

HDF jedenfalls stellte sich. Durch die Arbeit mit Scherzer sensibilisiert, geübter geworden in Selbstreflexion, ließ er sich befragen und befragte sich. Sätze wie diesen sagte er: »Dass sich meine Handlungen gegen meine Absichten kehrten, ist eine tiefe persönliche Tragik, die ihre Gründe in individuellen und gesellschaftlichen Grenzen hat.« Oder: »Die neue Partei muss den Menschen dienen. Wenn die Menschen sie nicht brauchen, hat sie keine Berechtigung zu existieren.«

Die neue Partei – die PDS. Zwar hatte HDF sein Kreissekretärszimmer im oberen Stock des »Weißen Hauses« geräumt, aber dafür eines im Erdgeschoss bezogen. Er war nun Kreissekretär der PDS. Im Bezirk Suhl der einzige ehemalige »Erste«, der auch weiterhin das Vertrauen seiner Genossen besaß. Von einst einhundertneunzehn Mitarbeitern hatte er dreizehn behalten können. Ehemalige Sekretäre arbeiteten inzwischen als Holzfäller oder in Betrieben als Schichtarbeiter. HDF selbst wollte »noch in diesem Jahr« aufhören und neu anfangen: in einer Autowaschanlage.

*

Suhl, Frühjahr 2010. Hans-Dieter Fritschler und seine Frau wohnen in einer engen Zwei-Zimmer-Wohnung, ohne Balkon. Dabei wäre ein Balkon so wichtig. Manchmal wird er noch HDF genannt, von den Suhler Genossen. Für die meisten seiner Nachbarn ist HDF aber kein Begriff. Sicher, die Kinder und Enkel haben Scherzers Buch gelesen und wissen, dass der Vater und Opa früher einmal »Der Erste« war, der Erste in Bad Salzungen. Hans-Dieter Fritschler hat zwei erwachsene Kinder, zwei erwachsene Enkelinnen und einen Urenkel. Er ist jetzt neunundsechzig.

Mit der Arbeit in der Autowaschanlage ist es nichts geworden. »Die wollten mich nur ausnutzen, mit meinem Namen Kunden gewinnen. Da habe ich nicht mitgemacht«, sagt er. So ist er dann doch nicht erst einmal in eine hintere Reihe getreten, sondern im Parteiapparat geblieben. Gabi Zimmer habe ihn überredet, in den Landesvorstand zu kommen. Zunächst war er ihr »Persönlicher«, dann Wahlkampfleiter in Thüringen: »Ich habe den Kontakt zu den Kreisen gehalten, das ist mir immer wichtig gewesen. Wenn Gregor hier war, hab' ich ihn begleitet.« Zu André Brie hat er heute noch sporadisch Kontakt. »Auf André«, sagt er, »lass' ich nichts kommen, egal, wie sie jetzt an ihm rummäkeln. Der ist ein kluger und ganz feiner Kerl, hat immer ein bisschen quergeschossen, der PDS tat das nur gut.«

Am Vormittag des 31. August 2002 war Hans-Dieter Fritschler auf Wahlkampftour in Weimar gewesen. Ein schwieriges Pflaster für Linke, doch »Stress war für mich völlig normal«. Abends dann der Schlaganfall. Operation am Gehirn, künstliches Koma, ein halbes Jahr lang. Während der Reha immer die Hoffnung, wieder auf eigenen Beinen stehen, irgendwann wieder laufen zu können. Die Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Fritschler ist auf den Rollstuhl und den Rollator angewiesen. »Er mag nicht mehr gern raus«, sagt Frau Fritschler, »es setzt ihm zu, dass andere an ihm vorbeigehen können, während er am Rollator klebt.«

Hans-Dieter Fritschler hat uns im Wohnzimmer empfangen, am Esstisch. Dass er uns überhaupt empfängt, ist mutig. Doch er freut sich auch, dass wir ihn besuchen. Er trägt bequeme Hauskleidung. Die grauen Anzüge hat seine Frau nach und nach in eine Kiste gepackt und weggeschenkt. »HDF gibt es nicht mehr«, sagt er. Er erzählt, wer sich heute noch um ihn kümmert und wer nicht – der Mann, der sich um alle und alles gekümmert hat. Die Welt schrumpft, wenn wir krank oder alt werden. Sie dreht sich nicht mehr kühn um die Sonne, sondern um die Krankheit, den Alltag, die Familie. Frau Fritschler ist oft traurig. Sie sagt aber auch: »Wenn Dieter es damals nicht geschafft hätte, gäbe es auch mich nicht mehr.« Dass es sie noch gibt, darüber immerhin kann sie sich heute wieder freuen.

Weil sie ihn so ausdauernd pflegt, hat Hans-Dieter Fritschler sich geistig wieder recht gut erholt. Wenn er nicht zu Ärzten oder zur Physiotherpie muss, liest er Zeitung, das »Neue Deutschland«, besucht ab und zu noch Versammlungen der Suhler Genossen, und vor einiger Zeit, als »Egon hier war«, nahm er auch an dieser Veranstaltung teil, fest entschlossen, ihn nicht anzusprechen. In der Pause hat dann doch jemand Egon Krenz zu ihm geführt. Das Wiedersehen sei herzlich gewesen. Eines konnte Fritschler »dem Egon« aber nicht schenken: »Ihr redet immer nur von euch. Davon, wie es euch ergangen ist. Wie es uns hier unten erging, danach fragt ihr nicht.« Er gönnt sich eine kurze Pause. »Aber sonst mische ich mich nicht mehr ein.« »Weil du es nicht mehr kannst«, moniert Frau Fritschler, »das vergisst du immer wieder.« Darüber, dass er das immer wieder vergisst, ärgert sie sich.

Fritschler ist ein Linker geblieben: »Aus mir kriegt man das nicht mehr raus.« Auch sein Sohn Sandro denke und fühle nach wie vor links – er arbeitet bei Aschaffenburg in einem Metallbetrieb, »hier war nichts zu finden«. Tochter Diane, Verkäuferin bei Lidl, habe sich nach der Wende politisch etwas zurückgezogen, und eine der Enkelinnen halte sich ganz fern von Politik. Er findet das »ganz natürlich: Ich kann doch nicht erwarten, dass sie wie ihr Großvater wird. Jeder hat sein eigenes Leben und muss versuchen, damit klarzukommen. Leicht haben sie es alle nicht: Mal haben sie Arbeit, mal haben sie keine, mal ist Geld da, mal fehlt es an allen Ecken. Das ist ja heute das Problem: Alles dreht sich ums Geld, um die Existenz. Die Menschen lassen sich viel gefallen, weil sie Existenzangst haben. Anders als in der DDR.« An der DDR, trotz des Scheiterns, hängt sein Herz immer noch.

Als »ND« den Programmentwurf der LINKEN veröffentlichte, hat Fritschler ihn »gründlich durchgelesen«. Und ist überrascht gewesen, vor allem von der Sprache: »Die Bürger können sie verstehen.« Es sei »erst einmal ein schöner Entwurf«, über den man »sauber, offen und ehrlich« diskutieren könne. In einigen Punkten allerdings sei er anderer Auffassung. Um die Frage der Regierungsbeteiligung zum Beispiel habe man versucht, sich herumzudrücken. Für ihn sei das Kriterium, ob sie den Menschen etwas bringt, und davon sei er nicht überzeugt: »Wer nach Macht greift, begibt sich in Strukturen, die ihn nicht zum Guten verändern.« Er hat es erlebt. Auch deshalb glaubt er, die LINKE müsse eine wirksame Oppositionskraft sein. »Oskar« habe das richtig erkannt. Schade, dass der nun erkrankt sei und nur noch begrenzt zur Verfügung stehe. »Dafür haben wir ja jetzt den Klaus Ernst und die Gesine Lötzsch«, sagt er, »wir lassen nichts kommen auf Gesine, die geht ihren Weg geradlinig.« Frau Fritschler bremst ihren Mann etwas: »Dieter, ich drücke es mal so aus: Du stehst nicht mehr mit beiden Beinen drin, du kannst die Menschen nicht mehr so beurteilen.« HDF lächelt.

Zum Abschied drückt er mir die Hand. »Christa, bleib, wie du bist!«, sagt er, obwohl er mich so gut wie nicht kennt. Ich verstehe einmal mehr, dass Frau Fritschler traurig ist: Man bleibt, wie man ist, und doch bleibt man es nicht.

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