Wider ein Leben ohne Ethik
Georg Lukács, Erich Fromm, Albert Schweitzer und die Renaissance des Humanismus
Der Philosoph Georg Lukács wurde vor 125 Jahren (am 13. April 1885) in Budapest, der Sozialpsychologe Erich Fromm vor 110 Jahren (am 23. März 1900) in Frankfurt am Main geboren. Beide stammten aus jüdischen Familien. Lukács, der zunächst in Budapest Staatswissenschaften studiert hatte, begann 1912 in Heidelberg die Arbeit an seinem Buch »Die Eigenart des Ästhetischen«. Hier arbeitete er nicht nur mit Ernst Bloch eng zusammen, sondern lernte auch Alfred Weber kennen, an dessen soziologischen Abenden er sich beteiligte. Erich Fromm, er studierte zunächst in Frankfurt Jura, folgte wenige Jahre später den Spuren von Georg Lukács. Fromm studierte in Heidelberg Soziologie und promovierte 1922 bei Alfred Weber.
Lukács und Fromm verband der Wille zur Humanität, die sich gegen die »Zerstörung der Vernunft« formieren müsse. Die Vernunft schwebt nicht über der gesellschaftlichen Entwicklung, sie ist nicht neutral, sondern widerspiegelt die Entwicklungsrichtung einer Gesellschaft. Ihr Weltbild verweist auf die Wurzeln einer gattungsmäßig fortschrittlichen Entwicklung und negiert jede Form partikularer Entfremdung. Die Zerstörer der Vernunft indes tragen einen Freiheitsbegriff als Aushängeschild vor sich her, der den Partikularismus glorifiziert, was sie u.a. damit begründen, dass sie über kein Weltbild mehr verfügen und deshalb völlig frei von jeder Ideologie seien. Der so bejubelte Partikularismus, basierend auf einer objektiv existierenden ökonomischen Beziehung der Menschen, die Konkurrenz statt Solidarität verlangt, fördert eine Marketing-Ideologie, die in alle Poren des menschlichen Lebens dringt.
In der Kritik an diesem spätbürgerlichem Partikularismus waren sich Lukács und Fromm einig. Allerdings mit dem Unterschied, dass Lukács in Friedrich Nietzsche die philosophische Speerspitze der fortschreitenden Zerstörung der Vernunft erkannte, während Fromm Nietzsche »auf dem Weg zum unentstellten und unmittelbaren Erfassen der Wirklichkeit« sah und den Philosophen in diesem Sinne mit Kant, Marx, Darwin auf eine Stufe stellte.
In der Einschätzung Nietzsches stimmt Albert Schweitzer (geboren am 14. Januar 1875 im Elsass) mit Lukács überein. Der »Übermensch« Nietzsches, so Schweitzer, »der sich triumphierend gegen alle Geschicke behauptet und rücksichtlos gegen die anderen Menschen durchsetzt«, vernichte die »Sozialethik«. Mit anderen Worten: Der »Übermensch« vernichtet die Vernunft. Statt Ethik fordert er die partikulare Lehre vom »Willen zur Macht«. Nietzsche, so Schweitzer weiter, habe die Begriffe von Gut und Böse liquidiert, indem er den »Willen zum Leben« als dominante Lebensanschauung gesetzt habe.
Schweitzer, Fromm und Lukács wollten diesen ideologischen Weg stoppen, der sich aus den immer heftiger werdenden Konkurrenzschlachten der kapitalistischen Dynamik herleitete und dabei bis heute immer mehr Entfremdungen in und zwischen den Menschen produziert. Sie hielten an den ethischen Begriffen von Gut und Böse fest, die dem einzelnen Menschen im Alltag Orientierung geben können. »Der Mensch muss den Unterschied zwischen Gut und Böse kennen«, schreibt Fromm, »er muss auf die Stimme seines Gewissens hören und folgen können.«
Ohne diese ethische Differenzierung kann auch keine ästhetische Katharsis entstehen. Denn »das Böse, das im Leben Widerwärtige, Abstoßende«, so Lukács, »kann uns dann sogar einen Kunstgenuss bereiten, wenn es auf die Welthaftigkeit der echten Kunst zurückgeführt wird. Indem in dieser – letzten Endes vom Standpunkt der Menschengattung – jede Gesinnung, jede Tat an die ihr zukommende Stelle in ihrer ›Welt‹ versetzt wird, indem die Parteilichkeit der künstlerischen Gestaltung zu ihnen richtig Stellung nimmt, steht das ästhetische Erlebnis, als Element des gesellschaftlichen Lebens der Menschen, in gar keinem Gegensatz zu ihren gesunden ethischen Empfindungen.« Auf diesem »gesunden ethischen Empfinden« gedeiht das, was Fromm die »gesunde« Gesellschaft nennt. Sie unterscheidet deutlich zwischen Gut und Böse. Besonders in Krisenzeiten der kapitalistischen Gesellschaft, so Lukács, wird aber das »sittliche Leben der Menschen problematisch«. Hier »können Pervertierungen entstehen, die von der ethischen Substanz abstrahieren.«
Der partikulare Mensch empfindet den »Verzicht auf die konsequente ethische Beurteilung der Dinge«, so Albert Schweitzer, sogar als »einen Fortschritt in Sachlichkeit«. »Ganz allgemein gesagt«, ergänzt Fromm, »ist die Bildung so heruntergekommen, dass sie zu einem Werkzeug des sozialen Aufstiegs geworden ist, oder dass das erworbene Wissen bestenfalls der praktischen Verwendung bei der ›Nahrungssuche‹ dient. Selbst unser Unterricht in den Geisteswissenschaften wird in einer entfremdeten, rein verstandesmäßigen Form abgehalten. Kein Wunder, dass die besten unter unseren Studenten es buchstäblich ›satt haben‹, weil sie nur mit Wissen gefüttert und nicht davon angeregt werden. [...] Man muss die Voraussetzungen ändern, und das ist nur möglich, wenn an die Stelle der Kluft zwischen den emotionalen Erfahrungen und dem Denken eine neue Einheit von Herz und Geist tritt. [...] Die Forderung der Studenten überall auf der Welt nach größerer Mitbestimmung bei den Angelegenheiten der Universität und bei der Festlegung der Lehrpläne ist nur ein mehr äußerliches Symptom ihres Verlangens nach einer anderen Art von Bildung.«
Fromm nannte das Leben ohne Ethik ein »nekrophiles« Leben. Das Denken und Handeln des Menschen orientiert sich im »nekrophilen« Leben nicht mehr an der Totalität des gesellschaftlichen Seins, es entfernt sich damit auch vom So-Sein des konkreten Menschen; denn »Vernunft erfordert Bezogenheit und Selbst-Gefühl«. Beides, die Bezogenheit des Einzelnen auf die Gattung und die dadurch entstehende Möglichkeit des Selbst-Gefühls, Teil vom Ganzen, also Individuum zu sein, liquidiert der Irrationalismus. Fromm beansprucht, die verlorene Einheit von Verstand und Vernunft wiederherzustellen. Dass der Verstand des Menschen, wenn er die Kausalgesetze von Natur, Grammatik und ökonomischer Manipulation korrekt reproduziert, nicht das typisch Menschliche, nämlich Liebe und Vernunft, ersetzen kann, spüren wir. »Unter uns sind viele mit einem guten und hohen Intelligenzquotienten«, so Fromm, »aber die Intelligenztests messen unsere Fähigkeit, etwas auswendig zu lernen und Gedankenverbindungen rasch herzustellen – sie messen jedoch nicht unsere Vernunft«. Derart intelligente Menschen wissen von ihrer Intelligenz, spüren aber, dass der Einsatz ihrer Intelligenz für fremde Interessen verzweckt werden soll, sich von ihrem menschlichen Sein entfremdet und sich nicht in eine gattungsmäßige Nutzung integrieren lässt. Deshalb kann die von der Vernunft getrennte Intelligenz auch keine glückvolle existenzielle Individualität entwickeln.
Lukács, Fromm und Schweitzer sprechen daher vom »neuen Menschen«, der im Kampf für eine Ethik entstehen muss, wenn eine neue Gesellschaft entstehen soll, in der der Mensch nicht mehr ein erniedrigtes, ausgebeutetes und entfremdetes Wesen ist. Fromm glaubte, »dass eine neue Gesellschaft nur dann entstehen kann, wenn sich parallel zu deren Entwicklungsprozess ein neuer Mensch entwickelt, oder, bescheidener ausgedrückt, wenn sich die heute vorherrschende Charakterstruktur des Menschen grundlegend wandelt«.
Der Mensch muss vom partikularen Wesen zum Individuum reifen, dessen Möglichkeiten und Fähigkeiten im Prozess des Erkennens und des Veränderns der Welt zur Entfaltung gelangen. Nur dieser Weg, auf dem sich die Menschen von ihrer Partikularität zur Individualität entwickeln müssen, ist für Lukács und Fromm letztlich die Basis für eine sozialistische Gesellschaft, in der die Ökonomie nicht als Konkurrenzschlacht zur Erreichung von Extraprofiten verzweckt wird, sondern in der sie als bewusst geplante Basis der Reproduktion aller Menschen auf höchstem Niveau dient.
»Der heutige Mensch«, so Fromm, »ist im wesentlichen allein, er ist auf sich allein gestellt, und man erwartet von ihm, dass er auf eigenen Füßen steht. Er kann nur dadurch zu einem Identitätsgefühl gelangen, dass er das Einzigartige und Besondere, das ›er‹ ist, bis zu einem Punkt entwickelt, wo er wirklich fühlt: ›Ich bin ich‹. Diese Leistung kann er nur vollbringen, wenn er seine eigenen Kräfte so entwickelt, dass er zur Welt in Beziehung zu treten vermag, ohne in ihr unterzugehen, also nur, wenn er es zu einer produktiven Orientierung bringt. Der entfremdete Mensch dagegen versucht, das Problem auf eine andere Weise zu lösen, indem er sich den anderen anpasst.«
Fromm zweifelte nicht daran, dass der produktive Charakter in einer entfremdeten Gesellschaft eine Seltenheit ist und im Gegensatz zur Marketing-Orientierung steht, welche die Regel sei. Er bestimmte »die produktive Orientierung dahingehend, dass sie das vorherrschende System transzendiert, und nur ein voreingenommener Leser kann übersehen, dass ich immer wieder betont habe, dass Glück und Liebe, so wie ich sie verstehe, nicht die gleichen Tugenden sind, welche in einer entfremdeten Gesellschaft als Liebe und Glück bezeichnet werden«.
Als christlicher Humanist lebte Schweitzer sein Leben »in Gott, in der geheimnisvollen ethischen Gottespersönlichkeit, die ich so in der Welt nicht erkenne, sondern nur als geheimnisvollen Willen in mir erlebe«. Die Gesetzmäßigkeiten des gesellschaftlichen Seins im Kapitalismus untersuchte er nicht. In seiner Lebens- und Weltanschauung unterscheidet er sich natürlich von Lukács und Fromm, was aber in der Absicht seines Denkens und Handelns keinen großen Unterschied macht.
Auch Lukács und Fromm, deren Weltanschauung von der relativen Erkenntnismöglichkeit der Totalität des gesellschaftlichen Seins ausging, wussten, dass eine Renaissance des Humanismus oder des Marxismus nur durch eine humanistische Lebensanschauung des einzelnen Menschen zu erreichen ist. Ohne eine Theorie über das Ganze des gesellschaftlichen Seins ist diese Lebensanschauung aber nicht zu erreichen. Es sei »die Abweichung vom Marxismus als Einheit von Wissenschaft und Philosophie«, so Lukács, die zur Folge hat, »dass die Marxisten oft auf die Gegenwart Kategorien, wie sie vor 40 – 80 Jahren formuliert wurden, unkritisch-mechanisch anzuwenden trachten«.
Marx, so Lukàcs, sei von jenen, die eine humanistische Lebensanschauung negierten, als Ökonom behandelt worden. »Marx kümmerte sich, wie alle großen Denker, nicht um Klassifizierungen, sondern untersuchte die gesellschaftlichen Entwicklungen im Ganzen. Deshalb habe ich in Ungarn die Ansicht vertreten, dass die neue Wirtschaftspolitik nicht ohne Wiederbelegung der sozialistischen Demokratie durchgeführt werden kann.« Ohne Ethik, ohne Vernunft, daraus folgend, ohne Lebens- und Weltanschauung kann es keine guten Charaktere oder humanistischen Persönlichkeiten geben.
»Ehrfurcht vor dem Leben« nannte Schweitzer seine Lebensanschauung. Fromm und Lukács unterstützten dies und erkannten, dass diese Haltung unter Stalin nicht gelebt werden durfte. Jedes selbständige Denken, so Lukács, sei im Regime Stalins »einer dogmatischen, bürokratisch-tyrannischen Unterdrückung« zum Opfer gefallen. »Es handelt sich darum, dass in dem Maße, wie die geistige Herrschaft Stalins sich befestigte und zum Personenkult erstarrte, die marxistische Forschung weitgehend zu einer Auslegung, Anwendung und Verbreitung ›endgül- tiger Wahrheiten‹ entartete. Wir besitzen noch keine marxistische Logik, keine Ästhetik, keine Ethik, keine Psychologie usw.«
Fromm teilte diesen Standpunkt. »Man muss unbedingt erkennen, dass Russland seit der Zeit, als Stalin uneingeschränkte Macht im Staat erlangte, keine revolutionäre Macht mehr ist. Darum sind auch ihre Ideale ›Pflicht, Patriotismus und Arbeit‹ und nicht ›Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit‹. Aber Stalin musste sich der marxistisch-leninistischen Parolen und Ideen bedienen, weil es nach dem Sturz des Zarismus und der Abschaffung der Religion keine Glaubensformeln, welche die Massen anzogen, und kein Image wie das Lenins, das ihnen Vertrauen eingeflößt hätte, mehr gab.« Nicht Individualismus wurde gefördert, sondern die partikulare Unterordnung unter Parolen, die nicht zur Erkenntnis der Wirklichkeit beitrugen.
Es ist aber trotz widriger gesellschaftlicher Verhältnisse nie unmöglich, wenn auch oft sehr schwierig, Individuum zu werden. Dies beweisen Georg Lukács, Albert Schweitzer und Erich Fromm.
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