Die irrationale Angst

Gefahren durch Zecken werden häufig überschätzt

  • Angela Stoll
  • Lesedauer: 3 Min.
In diesen Tagen melden sich in Kinderarztpraxen oft aufgelöste Eltern mit der Nachricht: »Mein Kind hat eine Zecke!« Sie befürchten das Schlimmste: Krankheiten, Behinderungen, sogar den Tod. Doch die Gefahren sind weit geringer als von vielen Menschen angenommen.

»Wir haben fast täglich mit diesem Thema zu tun«, berichtet der Münchner Kinderarzt Steffen Rabe. »Viele Eltern suchen ärztlichen Rat, obwohl sie die Zecke einfach selbst entfernen könnten.« Er fügt hinzu: »Fast immer ist so ein Zeckenstich eine harmlose Sache.«

Zecken können in der Tat Krankheiten übertragen. Das sind vor allem die Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME), die fast nur im südlichen Deutschland vorkommt, und die Lyme-Borreliose. Doch das Risiko, nach einem Zeckenstich schwer zu erkranken, ist sehr gering. »Die Zahl der FSME-Fälle liegt in Deutschland ziemlich konstant bei etwa 300 pro Jahr«, sagt die Sprecherin des Robert-Koch-Instituts (RKI), Susanne Glasmacher. Nur wenige Zecken tragen das Virus in sich: Nach RKI-Angaben sind es in Risikogebieten 0,1 bis 5 Prozent. Zudem erkrankt nur ein Teil der Menschen, die von einer infizierten Zecke gestochen wurden. Meistens bleibt es bei grippeähnlichen Symptomen wie Fieber und Kopfschmerzen. Etwa zehn Prozent der Infizierten bekommt eine »echte« FSME mit Hirnhautentzündung. Die kann schlimmstenfalls Behinderungen oder – in seltenen Fällen – den Tod zur Folge haben. »Je älter die Patienten sind, desto höher ist das Komplikationsrisiko«, sagt Glasmacher. Die Impfung empfiehlt die Ständige Impfkommission Menschen in FSME-Risikogebieten.

Lyme-Borreliose wird viel häufiger übertragen. Schätzungen zufolge erkranken jährlich etwa 80 000 Bundesbürger an der Multisystem-Krankheit, die unbehandelt zu Gelenkbeschwerden, Lähmungen oder sogar einer Gehirnhautentzündung führen kann. Eine Impfung gibt es in Deutschland nicht. Zecken mit Borrelien findet man im ganzen Bundesgebiet. Doch ist es regional sehr unterschiedlich, wie viele infiziert sind. Die Angaben schwanken zwischen fünf und 35 Prozent. Auch hier gilt: Es wird nicht automatisch krank, wer von einer infizierten Zecke gestochen wird, wie Volker Fingerle vom Nationalen Referenzzentrum für Borrelien betont. Zum einen gelangen die Erreger erst dann in das Opfer, wenn die Zecke bereits mehrere Stunden gesaugt hat. Die Bakterien befinden sich nämlich in einer Art Ruhezustand im Darm der Zecken und werden erst während des Saugens aktiviert.

Selbst wenn Borrelien in den Menschen gelangen, ist Panik laut Fingerle fehl am Platz. »Nur ein Bruchteil der Infizierten wird tatsächlich krank«, sagt der Mikrobiologe. Zudem lässt sich Borreliose mit Antibiotika gut behandeln: »Schwere chronische Verläufe sind die Ausnahme«, betont der Experte. Angesichts dieser Tatsachen spricht der Kinderarzt Rabe von einer »irrationalen Angst, die regelmäßig jedes Frühjahr hysterische Züge annimmt«. Dass das Risiko offensichtlich gewaltig überschätzt wird, zeigte eine Umfrage unter rund 8000 Eltern von Schulanfängern in Bayern: Die Befragten sollten die Bedrohung durch 40 verschiedene Umweltrisiken für ihr Kind bewerten. Zecken wurden von den Eltern als zweitgrößtes Risiko eingestuft. Experten nannten die Blutsauger dagegen nur an 19. Stelle.

Über die Gründe für diese Überschätzung können Experten nur mutmaßen. Eine Rolle spielt möglicherweise, dass vielen Bundesbürgern die Natur nicht geheuer ist: »Ganz generell werden, mit Ausnahme von Extremsportlern, die von der Natur ausgehenden Gefahren überschätzt«, sagt der Natursoziologe Rainer Brämer von der Universität Marburg. Da sich Menschen heute vielfach von der Natur entfremdet hätten, würden auf sie häufig Ängste projiziert. Auch Angst vor Spinnen könnte die Zeckenpanik ein Stück weit erklären, meint Brämer. Die achtbeinigen Krabbler sind Spinnentiere.

Der Münchner Kinderarzt Martin Hirte macht die Hersteller von FSME-Impfstoffen für die verbreiteten Ängste verantwortlich: »Die Pharmafirmen haben es durch geschickte Pressearbeit verstanden, in ganz Süddeutschland die Angst vor Erkrankungen nach Zeckenbissen zu schüren«, schreibt er in seinem Ratgeber »Impfen – Pro und Contra«. Ärzte würden »mit Propagandamaterial und ungenauen Angaben über die geografischen Verbreitungsgebiete der FSME regelrecht zugeschüttet«, kritisiert Hirte.

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