Ein Schnitt mit Folgen

Bundesgericht stärkt in einem Grundsatzurteil das Selbstbestimmungsrecht von Patienten

  • Lesedauer: 2 Min.
Nach einem wegweisenden Gerichtsurteil dürfen Ärzte lebensverlängernde Maßnahmen bei schwerkranken Patienten auch dann abbrechen, wenn der unmittelbare Sterbevorgang noch nicht begonnen hat.

Berlin (ND-Klemm). Der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe hat in einem Grundsatzurteil zur Sterbehilfe den angeklagten Anwalt Wolfgang Putz freigesprochen – und dadurch das Selbstbestimmungsrecht der Patienten gestärkt. »Das Abschalten eines Respirators oder der Schnitt durch eine Magensonde ist ein zulässiger Behandlungsabbruch«, begründete die Vorsitzende Richterin Ruth Rissing van Saan die gestrige Entscheidung. Mit Tötung auf Verlangen oder versuchtem Totschlag habe dies nach Ansicht des Gerichts nichts zu tun. Die Behandlung von unheilbar kranken und nicht entscheidungsfähigen Menschen kann nun jederzeit beendet werden, wenn der Betroffene diesen Wunsch zuvor geäußert hat.

Rechtsanwalt Putz hatte seiner Mandantin Elke Gloor geraten, einen Ernährungsschlauch ihrer Mutter, die nach einer Hirnblutung seit 2002 im Wachkoma lag, zu durchtrennen. Das machte die Tochter. Die Mutter überlebte, starb aber wenige Tage später an Herzversagen. Das Fuldaer Landgericht sprach die Tochter frei – verurteilte aber ihren Anwalt wegen versuchten Totschlags zu einer neunmonatigen Bewährungsstrafe. »Ein krasses Fehlurteil«, wie Gita Neumann vom Humanistischen Verband Deutschland (HVD) gegenüber ND erklärt.

Dieses Urteil ist nun hinfällig. Das Durchschneiden des Versorgungsschlauches sei keine rechtswidrige Tötung, wenn eine »tragfähige, auch mündliche Willensäußerung« des Patienten vorliege. Der Abbruch von lebenserhaltenen Maßnahmen, so Richterin Rissing van Saan, könne »auch unabhängig vom Eintritt der finalen Sterbephase« straffrei bleiben. In dem vorliegenden Fall habe die Totkranke gegenüber der Tochter den Willen bekundet, dass sie keine lebenserhaltenden Maßnahmen in Anspruch nehmen wolle, sagte Neumann dem ND. Eine schriftliche Erklärung lag aber nicht vor.

»Heute ging es ganz klar darum, dass es einen Verstoß gegen die Menschlichkeit bedeutet, wenn die Geräte gegen den Willen des Patienten weiter in Betrieb sind«, kommentierte Wolfgang Putz das gestrige Urteil. Für Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger schaffe die Entscheidung Rechtssicherheit. Der BGH habe dem Selbstbestimmungsrecht des Menschen zurecht einen besonders hohen Stellenwert eingeräumt, sagte die FDP-Politikerin.

Auch die Humanistische Union begrüßte das Urteil. Dennoch bestehe gesetzgeberischer Handlungsbedarf: Es sei »höchste Zeit, die Grenzen zwischen aktiver, passiver und indirekter Sterbehilfe im Strafrecht zu klären«, sagte die Bundesvorsitzende Rosemarie Will. Die Bürgerrechtsorganisation verweist auf einen eigenen Gesetzentwurf, der eine Abgrenzung zwischen den verschiedenen Formen der Sterbehilfe enthält und darüber hinaus für eine Legalisierung der aktiven Sterbehilfe eintritt.

Nach dem Patientenverfügungsgesetz müssen Arzt und Betreuer den mutmaßlichen Willen eines Kranken ermitteln, wenn keine Erklärung vorliegt. Diese Rechtsprechung sei nach Rissing van Saan »am Patientenwillen orientiert« und stelle das Selbstbestimmungsrecht des Menschen in den Vordergrund.

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