Außer Atem

Herbstgold - von Jan Tenhaven

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Ein Mann läuft die Treppen eines Hochhauses hinauf. Wir hören seinen keuchenden Atem. Der Mann ist alt. Wird er verfolgt? Ist das hier ein Thriller? Ja und nein. Es ist ein Film über Sportler, die für die Senioren-Weltmeisterschaft der Leichtathleten in Lahti trainieren. Und das Treppenlaufen gehört zu Jiris täglichem Trainingsprogramm. Jiri ist Hochspringer in einer tschechischen Kleinstadt.

Die Sportler, die wir in Jan Tenhavens »Herbstgold« sehen, sind zwischen 82 und 100 Jahre alt. Unwillkürlich denkt man an Jack Londons »Ruhm des Kämpfers«. Sie schenken ihrem Körper nichts. Und was schenkt ihr Körper ihnen – außer Schmerzen? Es dauert einige Zeit, bis Jiri, mit 82 der jüngste der hier Porträtierten, oben auf seinem Hochhaus zu Atem kommt. Er hat es wieder geschafft. Was geschafft? »Ich will meine Jugend verlängern.«

Ein Film über Jugendwahn im Alter, über Menschen, die sich nicht daran gewöhnen wollen, dass sie alt sind und sich nicht mehr viel zumuten dürfen? Jiri läuft nicht nur Hochhaustreppen zur Vorbereitung auf den Hochsprungwettbewerb, bei dem er unbedingt die 1,06 Meter schaffen will, er ist laufend und springend auch zum Philosophen geworden: »Leben ist wie Wasser, es zerrinnt zwischen den Fingern. Deshalb ballen wir die Hände zu Fäusten, damit es nicht so schnell fließt.« Sich anzustrengen, will er sagen, ist man nie zu alt. Seine Frau, die ihn nach jeder Trainingseinheit massieren muss, hat längst aufgehört, gegen die Art, wie ihr Mann lebt, zu protestieren.

Was ist hier Vernunft, was Unvernunft? Herbert Liedke in Stockholm sieht nicht aus wie 93, wenn er auf einem Gerät namens »Brutalbänken« seine Übungen macht. »Hier sitze ich und werfe meinen Körper zurück. Das ist eine sehr gute Übung.« Kopfunter sagt er auch, wenn er mit dem Sport aufhören würde, wäre er in einem Monat tot.

Jan Tenhaven hat einen wunderbaren Film darüber gedreht, wie Menschen, die niemandem mehr etwas beweisen müssen, sich selbst etwas beweisen wollen. Warum tun sie das? So etwas können nur die fragen, die nichts von der Unbedingtheit des Sports wissen. Warum tut er das nur, fragten sich Kollegen besorgt, als ein Feuilletonredakteur dieser Zeitung eines Morgens seine ältesten Turnschuhe anzog und sich auf den Weg nach Hiddensee machte. Nicht gehend, sondern laufend. Man kann eben nicht allen alle Fragen beantworten. Jeder weiß zwar, wie das Leben ausgeht, aber hier und jetzt leben bedeutet auch: Wie das ausgeht, weiß ich noch nicht – das wird sich erst noch zeigen müssen. Ich selbst werde es mir zeigen müssen und dieses noch ungelebte Stück Leben, das es sich vielleicht zu zeitig bequem gemacht hat, noch einmal über Grenzen treiben. Ruhe kommt von Ausruhen, setzt voraus, dass man sich zuvor angestrengt hat. Und warum nun das Ganze? Es ist das Leben selbst, das nicht vor dem Tod kapitulieren will. Es unbedingt wissen wollen – das macht Sportler zu Philosophen.

Altersweisheit kann so töricht aussehen. Aber wer nicht aufhören will, das zu tun, was er immer getan hat, etwas langsamer gewiss, der ist auf eine kluge Weise alt geworden. Der ist zweifellos alt, aber von einem Leuchten erfüllt, das von sehr weit herkommt und uns beim Zuschauen gerade darum sehr nahe rückt. Gabre Gabric aus Brescia in Italien will nicht sagen, wie alt sie ist. »Dein Alter interessiert mich auch nicht«, antwortet sie auf solche Fragen kokett. Fest steht nur, ihren ersten großen Wettkampf im Diskuswerfen gewann sie 1936 – mit 37 Metern. Heute wirft sie den Diskus noch 12 Meter weit. Das ist ihr egal, die Liebe zum Diskus ist alt, doch das Schöne an der Liebe bleibt, wenn das Gefühl da ist, ist sie auch immer wieder neu. Ilse Pleuger (85) trainiert für den Wettkampf im Kugelstoßen. Seit ihr Mann gestorben ist, traut sie sich Dinge zu, die sie früher nicht getan hätte. Sie ist aus ihrer großen in eine kleine Wohnung umgezogen, da ist kaum Platz für die beiden überdimensionierten Fotos ihres Mannes. Denen winkt sie zu, wenn sie ihre Sporttasche nimmt und zum Training geht. »Herbstgold« hält Jahrhundertbiografien in Händen, verzichtet jedoch klug darauf, sie in aller Breite zu erzählen.

Dieser in seiner Schlichtheit tief poetische Film zeigt uns Menschen wie sie heute sind und in einen Wettkampf gehen. Mit aller Gelassenheit des Alters und der Unruhe des ewigen Sportlers. Auch Alfred Proksch aus Wien kennt das Gefühl. Er ist hundert Jahre alt. Wenn er den Diskus wirft, dann erkennt man den Athleten in seinem Wesen: einen Sisyphus. »Ich bin ungern Zweiter, lieber Erster.« In jeden Wurf legt er sein Leben und einen kleinen Vorbehalt gegen die geltenden Maßstäbe des Siegens und Verlierens dazu. Ein wahrhaft freier Mensch, so weit man das sein kann, das unausweichliche Ende vor Augen. Oder gerade deshalb? Wir sehen ihn auch in seinem Atelier malen, am liebsten zeichnet er Akte sehr junger Mädchen – so möchte jeder hundert werden. Wie viel Lebenslust versammelt doch dieses »Herbstgold«! Dabei ist der Tod allzeit nah. Herbert Liedke in Stockholm hat gerade eine längere Trainingspause hinter sich, er musste seine Frau pflegen, die inzwischen gestorben ist.

Dopingprobleme gibt es auch in der Altersklasse 90 plus, denn viele der Medikamente, die hier täglich eingenommen werden müssen, sind im Leistungssport eigentlich verboten. Jan Tenhaven fängt die melancholischen Töne ein, ohne die Sport im Alter bloß eine Frivolität wäre. Die Kraft lässt nach, muss man sie nicht gerade darum täglich neu erproben? Herbert Liedke lebt in einem Altenheim in Stockholm, einem atmosphärelosen Zweckbau. Die Kamera begleitet ihn zurück zu jenem zauberhaften Haus an einem See, in dem er fast sein ganzes Leben verbrachte. Nun lebt sein Sohn darin. Als Erstes hat er eine große Tanne gefällt, die ihn störte. Der Stamm liegt zersägt im Garten. Zum ersten Mal sehen wir den alten Mann fassungslos. Und beim schier unverwüstlichen Alfred Proksch geht plötzlich das Knie kaputt. Wir sehen ihn im Krankenhaus nach der Operation – auf einmal wirkt auch er alt und krank.

Aber dann begegnen wir ihm doch in Lahti am Start. Der Diskus liegt trotzig auf dem Rollator. Wie dieser alte Mann dem demütigenden Gerät mit den Fingern schließlich einen verächtlichen Stoß gibt, sodass es beiseiterollt und er ohne Hilfe die letzten Schritte in den Ring geht und den Diskus wirft – das sollte man gesehen haben.

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