Der Dschungel kennt kein Entkommen

Billy X. Curmano kämpfte erst im, dann gegen den Vietnamkrieg. Für sich selbst findet der US-Amerikaner keinen Frieden

  • Till Mayer
  • Lesedauer: 6 Min.
Seit über 40 Jahren kaum eine Nacht ohne Albträume: Vietnamveteran Billy X. Curmano ist schwer traumatisiert. Im Schlaf sieht er die gefallenen Kameraden und die getöteten »Feinde«. Im Kopf des 61-Jährigen findet der Krieg kein Ende. Andere haben kapituliert: 60 000 Vietnamveteranen nahmen sich das Leben; mehr als die US-Streitkräfte einst als im Kampf Gefallene gemeldet hatten.
Heute trommelt Vietnam-Veteran Billy X. Curmano auch gegen aktuelle Kriege seines Landes und unterstützt die »Iraq Veterans Against the War«.
Heute trommelt Vietnam-Veteran Billy X. Curmano auch gegen aktuelle Kriege seines Landes und unterstützt die »Iraq Veterans Against the War«.

Dicke, schwarze Wolken steigen auf. Der Vietnameinsatz beginnt für Billy X. Curmano als eine stinkende Angelegenheit. Auf dem Stützpunkt verbrennen die Neuankömmlinge Exkremente ihrer Kameraden, schütten kanisterweise Diesel auf die stinkende Schlacke. Der 19jährige Billy schwitzt in der schwülen Hitze literweise. Verflucht seinen Spieß, der in einiger Entfernung grinsend den Einsatz überwacht.

Heute würde er sich wünschen, im Jahr 1968 nur Latrinenhinterlassenschaften verbrannt zu haben. Dann wäre er dem Dschungel entkommen, den Albträumen, die ihn bis heute quälen. 42 Jahre später kommt nachts der Dschungel in sein Haus in Winona, gelegen zwischen Kleinstadtidylle, Mississippi und Wald. Leise, unaufhaltsam. Sobald die Müdigkeit seine Augenlider fallen lässt.

Hinter jedem Strauch kann der Tod warten

Der Dschungel ist finster. Doch gibt die Dunkelheit zu viel preis. In ihm warten die Toten ungeduldig auf den Vietnamveteran. Grausam Verstümmelte. Gefallene Kameraden.

Der Dschungel ist laut. So laut wie Schreie, Granateneinschläge, dröhnende Hubschrauber und MG-Salven im Kopf nur lärmen können. Unerträglich ist das letzte kurze Klagen, bevor ein Leben vergeht. Die unsägliche Stille danach, die die Brust zerreißt. Auch das kann der Dschungel sein.

Es ist nicht so, dass Curmano dem nächtlichen Dschungel nicht entkommen könnte. Mit genügend Schlaftabletten wäre es möglich. Es müssen so viele oder so starke sein, dass der 61-Jährige die ganze Nacht wie ein Toter auf seiner Matratze liegt und am nächsten Tag Mühe hat aufzustehen, dafür unendlich viel Kraft braucht. Weil sich seine Knochen so schwer anfühlen, als wären sie aus Blei gegossen. Dann müsste er zu anderen Tabletten greifen. Solchen, die munter machen. »Tabletten sind keine Lösung«, sagt der Veteran. So lässt er es meist bleiben. Und hofft, dass ihn nachts die Träume verschonen. Ihn nicht wieder über die Matratze jagen.

1968: In den Dschungel kommt der junge GI nur wenige Tage nach seiner Ankunft in Vietnam. Der Hubschrauber hat nicht einmal Bodenkontakt. Die Soldaten springen ab. Mit vollem Marschgepäck. Die Knochen schmerzen beim Aufprall im hohen, grünen Gras. Seine Einheit wartet schon auf ihn. »Ich hab mir gedacht: Die Jungs sehen mehr aus wie eine Motorradgang als wie Soldaten«, sagt Curmano heute. Den Unteroffizier, der das Sagen hat, nennen sie Captain Jack. Auf eine Fahne haben sie Snoopy gemalt, im Lager einen Vietnamesenschädel auf ein Stück Holz gerammt und das Abzeichen ihrer Einheit darauf befestigt: der Dog Co.4. Battalion 503rd Infantry 173rd Airborne Brigade.

Wenige Tage später sein erstes Feuergefecht. Billy sieht die Mündungsblitze der Vietnamesen. Dann pfeifen die Kugeln. Der Teenager lässt seine M 16 spucken, was ihr Magazin hergibt. Er zielt in Richtung der Gegner, reine Angst, reiner Reflex. Seit diesem Tag weiß er, hinter jedem Baum, jedem Strauch kann der Tod warten. Und der Tod, er kann im Dschungel immer kommen. Wenn es in der Regenzeit wie aus Eimern schüttet und der Teenager keine fünf Meter durch die prasselnde Wand blicken kann. Nachts setzen sich die Soldaten auf ihre Stahlhelme, halten sich an ihren Gewehren fest und versuchen so zu schlafen.

Einmal sind sie wie so oft auf Patrouille, jagen den »Vietcong«. Aus der Truppe wirft einer eine Granate in eine Bauernhütte. Ein Knall, Schreie. Die GIs marschieren weiter. Curmano ist schockiert. »Aber was hätte ich tun sollen? Hätte ich es gemeldet, hätten die anderen mich als Verräter angesehen...«, sagt der 61-Jährige heute.

Was er damals gefühlt hat? Billy X. Curmano legt ein Stück olivgrüne Pappe auf den Tisch. Teil der Verpackung einer Essenration. In einer Gefechtspause hatte er einen Brief darauf geschrieben. Einen Brief aus dem Dschungel, auf gut 15 mal 15 Zentimetern. Eng beschrieben, fand sich darauf kein Platz für ein einziges persönliches Wort. Gefühllos, leer, blank. Der Brief ging an seine Mutter.

Auf dem Stern klebt heute noch das Blut

»Jeden Tag haben wir uns in Vietnam mehr verloren«, sagt Billy X. Curmano heute. Der Veteran weiß nicht, ob er getötet hat. Besser, er sah nicht, wen er tötete. Aber er hat die Leichen nach den Feuergefechten gefunden. Von einem gefallenen nordvietnamesischen Soldaten hat er die Gürtelschnalle mitgenommen. Das Blut auf dem Stern sieht man heute noch. Das Gesicht des jungen Mannes hat er nicht vergessen.

Es ist eine simple Frage, die sich Veteranen stellen, die töten mussten: »Bin ich noch ein guter Mensch?« Eine Frage, die einen ehemaligen Frontkämpfer zerbrechen lassen kann. Zusammen mit den Schuldgefühlen, dass man selber überlebt hat, während andere sterben mussten. Manche sehen im Freitod den einzigen Ausweg. Über 60 000 Vietnamveteranen nahmen sich laut einer Studie das Leben. Das sind mehr als die US-Streitkräfte an Gefallenen im nie erklärten Vietnamkrieg vermeldeten: 58 193 von rund zwei Millionen Soldaten im Einsatz.

Der Krieg wirft einen langen Schatten bis ins Heute: 1972 sitzen 300 000 Vietnamveteranen hinter Gittern. Junge Männer, die ihren Platz im zivilen Leben nicht mehr finden können. Manche bis heute nicht: Das U.S. Department for Veteran Affairs schätzt im Jahr 2008, dass 61 600 Vietnamveteranen dauerhaft obdachlos sind.

Billy X. Curmano fand seinen eigenen Weg, dem Krieg den Krieg zu erklären. Nach seiner Rückkehr schließt er sich den »Vietnam Veterans Against the War« an und wird Künstler (www.billyx.net). Ziemlich verrückte Sachen macht er dabei. Drei Tage lässt er sich lebendig begraben. Bei Performances spritzt das Blut. Er durchfährt den Mississippi von der Quelle bis zur Mündung, um auf die Flussverschmutzung aufmerksam zu machen.

Er malt ein verstörendes Selbstporträt, wandelt Angst in Farben und Linien um. Zerstörung, Krieg und Tod spielen in seiner Arbeit ein wichtige Rolle. Seine Auftritte sind ruhiger geworden. Die Wut, die er nach dem Krieg mit nach Hause brachte. Er hat gelernt, sie zu beherrschen. Billy X. Curmano ist heute ein leidenschaftlicher Free-Jazzer.

Vor wenigen Monaten hat sich Billy X. Curmano sein Trauma von einer Ärztin bestätigen lassen. Mit etwas Glück wird er dafür eine kleine Rente vom Staat bekommen. Er braucht das Geld. Als Künstler kann er sich gerade so über Wasser halten. Was er beiseite legen kann, damit renoviert er sein kleines Häuschen Stück für Stück. »Ich habe über 40 Jahre gebraucht, um mein Trauma diagnostizieren zu lassen. Eigentlich wollte ich nie Geld vom Staat. Es war immer Blutgeld für mich.«

Dann fischt er einen ausgestopften Alligator aus einem seiner Schaukästen. Souvenir von seiner Mississippi-Tour und jetzt Teil eines eigenwilligen Kunstwerks. »Ja, auch der Mississippi hat seine Gefahren«, sagt er. Und grinst frech in die Kamera. Billy X. Curmano, 61 Jahre alt, kann manchmal einfach ein großer Junge sein. Doch nachts wird er wieder daran erinnert, dass sein Leben kein Spiel war. Die Granatsplitter in seiner rechten Wade wird er ein Leben lang mit sich tragen, so wie den Dschungel, der ihn so oft nachts heimsucht.

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