Freie Fahrt in die Dritte Welt

In Bulgarien saßen Todor Shiwkows Erben seit 1990 oft im Führerhaus

  • Michael Müller, Sofia
  • Lesedauer: 6 Min.
Realität auf Sofioter Gehsteigen, Symbolik für Bulgarien heute: Ein Weg nach oben scheint immer aussichtsloser. Foto: M. Müller
Realität auf Sofioter Gehsteigen, Symbolik für Bulgarien heute: Ein Weg nach oben scheint immer aussichtsloser. Foto: M. Müller

»Parlamentarier schwatzen – Bulgarien vor dem Chaos«, meldete ND vor fast auf den Tag genau 20 Jahren. Inzwischen ist das damals erst drohende Chaos längst nationaler Dauerzustand. Und das »Parlament ein Selbstbedienungsladen für Reiche«, wie die Tageszeitung »Trud« in dieser Woche titelte.

Bulgarien stieg nach der »Wende« von der realsozialistischen Zweiten Welt nicht etwa in die westliche Erste auf, sondern fiel in die Dritte zurück. So wie alle seine balkanischen Nachbarn. EU- und NATO-Mitgliedschaft kaschieren das nur notdürftig. Im Inneren verordnen der Internationalen Währungsfonds und die Weltbank die gleichen Knebelkriterien wie in Lateinamerika und Afrika.

Bereits Mitte der 90er Jahre hatte Bulgarien laut damaliger offizieller Statistik »erstmals in seiner 1300-jährigen Geschichte« Getreide und Gemüse einführen müssen. Zudem war das Land mehr und mehr deindustrialisiert worden. Bis heute haben ihm rund 1,4 Millionen (von fast neun Millionen Einwohnern 1990) den Rücken gekehrt. Den einst bewunderten und beneideten sozialistischen Schwestern und Brüdern in der DDR war es schon früher besser gegangen. Inzwischen leben die in Gesamtdeutschland im Vergleich zu den Bulgaren sogar wie im Schlaraffenland. Den bulgarischen Lebensstandard, der mit dem in Rumänien und Moldova zu den niedrigsten in Europa gehört, kann man sich etwa mit der folgenden hypothetischen Frage verdeutlichen: Wie würde eine deutsche Durchschnittsfamilie weiterleben, wenn sie bei gleich bleibenden Preisen ab sofort mit etwa einem Viertel ihres Einkommens und so gut wie keinen Vermögensreserven auskommen müsste?

Rechnung der Wähler

»Für all unsere Probleme sind sicher auch IWF und Weltbank, auch österreichische, deutsche und italienische Konzerne maßgeblich verantwortlich«, sagt Ruslan Stojanow, Filialleiter einer bekannten Versicherung im Sofioter Rayon Losentz. »Verantwortlich sind wir aber auch selbst.« Der 44-Jährige meint damit die Bulgarische Sozialistische Partei (BSP), in der er auf lokaler Ebene aktiv ist.

»Den Ausverkauf unseres Landes, das Auseinanderklaffen der sozialen Extreme hat auch die BSP nie stoppen können. Oft saß sie sogar mit im Führerhaus«, konstatiert er nüchtern und auch verbittert. »Dafür haben uns die Menschen jetzt die Rechnung präsentiert.« Er meint damit den katastrophalen Einbruch bei den Parlamentswahlen vor einem Jahr. Mit 17,7 Prozent kamen die Sozialisten auf das schlechteste Ergebnis seit ihrer Gründung.

Vor 20 Jahren hatten sie bei den ersten Parlamentswahlen nach der »Wende« sogar noch die absolute Mehrheit erreicht. Das galt im Sommer 1990 als sensationell. Schließlich war diese BSP direkt, und zwar weitgehend mit dem einstigen Führungspersonal, aus der Bulgarischen Kommunistischen Partei (BKP) hervorgegangen. Von Warschau über Berlin bis Budapest rutschten solche »Nachfolgeparteien« ab Ende 1990 mehr oder weniger ab. Doch in Sofia stellte die BSP mit Petyr Mladenow den Staatschef und mit Andrej Lukanow den Ministerpräsidenten. Beide waren zuvor Mitglieder des BKP-Politbüros – der eine als Außenminister der Volksrepublik Bulgarien, der andere als deren Vizepremier. Und der BSP-Parteichef selbst hieß Alexandyr Lilow, langjähriger Chefideologe der BKP, faktisch deren zweiter Mann hinter Generalsekretär Todor Shiwkow, von diesem jedoch 1983 in den vorzeitigen, allerdings dick vergoldeten Ruhestand geschickt.

Die zweite bulgarische Besonderheit der »Wendezeit« war, dass sie kaum durch oppositionellen Druck, sondern schlicht durch eine kleine Palastrevolution in der BKP eingeleitet und geprägt wurde. Seine bisherigen Mitgenossen hatten den Uralt-Generalsekretär Todor Shiwkow am 10. November 1989 entmachtet und in Rente geschickt. Die BKP gab – sich von Moskau endgültig in Stich gelassen sehend – flugs den in der bulgarischen Verfassung verankerten Führungsanspruch auf. Sie verpflichtete sich zu einem »demokratischen, gesetzestreuen Staat«, in dem die »positiven Kräfte der Marktwirtschaft« entfaltet werden sollen. Sie benannte sich selbst in Bulgarische Sozialistische Partei um, grub ihre sozialdemokratischen Wurzeln aus und wurde Mitglied der Sozialistischen Internationale (SI).

Kader und Glücksritter

Das galt zwar nach bisheriger Lesart alles als »Verrat an der kommunistischen Sache«, wurde aber von der überwiegenden Mehrheit der Bulgaren vorerst als neuer, erfrischender Wind wahrgenommen. Im Windschatten indes ging ein Großteil des einstigen in- wie ausländischen Volkseigentums in persönliche Verfügungsgewalt zahlreicher führender und mittlerer BSP-Kader über. Dabei waren die wohlgemerkt nicht schlimmer als andere Glücksritter der neuen Zeit. Nur in der komfortableren Ausgangsposition. Sie saßen bereits in den Führungspositionen der seit Anfang der 80er Jahre mit selbstständigen Betrieben experimentierenden sozialistischen Wirtschaft. Damit übrigens ihren komsomol-dynamischen sowjetischen Genossen vergleichbar, die Postkommunismus ebenfalls in den neuen, selbstständigen Wirtschaftseinheiten der Gorbatschow-Zeit trainiert hatten – und später rasch zu Milliardären wurden.

Von all dem wusste die im Sommer 1990 zwar politisch höchst sensibilisierte, aber kaum zielführend agierende Mehrheit in Bulgarien wenig. Auch er, räumt der unermüdliche BSP-Basisaktivist Ruslan Stojanow ein, sei deshalb damals als Student weder bei der Besetzung der Sofioter Uni dabei gewesen noch im Streikzeltlager vor dem Präsidentensitz. »Ja, es war alles chaotisch. Aber auch unheimlich begeisternd. Ich glaubte an eine neue Perspektive für unser Land«, erinnert er sich.

Andere, 1990 allerdings erst wenige, glaubten das nicht und gingen auf die Straße. In besagten Protestzentren kursierte Gene Sharps Gewaltlos-Standardwegweiser »Von der Diktatur zur Demokratie« sogar in bulgarischer Übersetzung (gesponsert von The German Marshall Fund of the United States). Die BSP knickte rasch ein, denn ihr moralischer Kredit sank vorübergehend rapide. Ihr Staatspräsident hatte der Straße mit Panzern gedroht, die Partei musste ihn aufgeben. Und 1991 verlor sie dann auch die Parlamentswahlen an die Union Demokratischer Kräfte (SDS), die es unter dem neuen Staatspräsidenten Shelju Shelew geschafft hatte sich zu sammeln.

Dennoch waren die Sozialisten nach 1990 in fünf der zehn munter wechselnden Regierungen Seniorpartner. So gesehen ist keine Partei verantwortlicher für die heutige Lage in Bulgarien als sie. Sie beförderte maßgeblich die sogenannte Privatisierung im Land sowie die Beitritte in die NATO und die EU, hielt die Stützpunktverträge mit den USA, schickte Soldaten nach Irak und nach Afghanistan.

Flucht nach vorn

Der derzeitige BSP-Vorsitzende, der 2009 eklatant abgewählte Expremier Sergej Stanischew, kündigte Anfang der vergangenen Woche vollmundig an: Nächstes Jahr schlagen wir GERB! (Das ist die derzeit allein regierende Partei des populistisch-autoritären Premiers Boiko Borissow.) Die am gleichen Tag bekannt gewordenen Umfragewerte des Massenblattes »24 Tschasa« sehen die BSP indes bei ganzen zwölf Wählerprozent und GERB bei 33. Stanischew bleibt momentan nichts als die Flucht nach vorn. Er will sich Mitte Oktober durch einen Parteitag im Amt bestätigen lassen. Eine »erneuerte, reformierte, modernisierte Partei« hatte er dafür nach der Wahlschlappe von 2009 versprochen.

»Doch bis heute, zehn Monate später, ist nichts passiert«, kritisierte der BSP-Parlamentsabgeordnete Kiril Dobrew dieser Tage in der Zeitung »Standart«. Der Anwalt Krassimir Premjanow, Mitglied des BSP-Nationalrates, konstatierte in der »Duma«: »Seit 1990 drehen wir uns im Kreis. Und auch jetzt: Absichtserklärungen ja, Wende nein.« Von einem Parteitag mit den alten Delegierten, also ohne Neuwahlen, erwarte er nicht viel. Die BSP sei in ihrem jetzigen Zustand keine reale politische Alternative für das Land, schätzt er ein.

Wie ein Blick zurück in den Sommer 1990 und auf die Jahre seither zeigt, boten die Sozialisten für Bulgarien eigentlich nie eine Alternative. Ob das die Bulgarische Linke (BL), die sich im Vorjahr aus Protest von der BSP abspaltete, jemals wird sein können, steht noch ganz weit oben in den Sternen überm Balkangebirge.

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