Die rücksichtslose Lust
Salzburg II: Der »Jedermann« hat eine neue Buhlschaft: Birgit Minichmayr
Die Minichmayr. Minutenlang steht sie, im Mantel, in der Mitte der Bühne. Schaut ins Publikum. Fröstelnd. ZwischenBibbern und einem trotzigem Aufblasen der Wangen. Die Medea Grillparzers am Wiener Burgtheater, Regie: Stephan Kimmig. Die Verstoßene stößt sich ab. Ein sehr trauriger und in seiner Verzweiflungs-Nacktheit ein sehr ergreifender, geradezu frecher Moment. Und fast ist da ein herzsprengender unflätiger Stolz spürbar, wie ihn nur Verfemte haben können. Erotik mit Reibeisenstimme. Diese Medea mit ihren Zauberkräften, die ihren königlichen Vater fest im Griff hat, wandelt sich in Minichmayrs faszinierend direkter Energie vom geschmeidig-selbstbewussten, frech-vulgären Diskomädchen zur durchzitterten, leiddurchzuckten Frau. Von Liebe, die sie wie ein Blitz trifft, bis zur Aussortierung, die sie wie ein Schlag trifft und der wirklich einer ist – alles ganz einfach, ganz leicht, ganz natürlich.
Die Minichmayr. Als Trina in »Gier nach Gold« von Castorf an der Berliner Volksbühne: ein Mensch, der am Traum vom Geld verrückt wird, der sich im Geiz selber erstickt. Die Minichmayr schluchzt, schmollt, röhrt, stakst, rast und rammt durch die Inszenierung, dass man Wunde und Wunder zugleich denkt. Grandiose Gosse: sich mit Stolz niedrig spielen, sich schwitzend billig präsentieren, die Verachtung über das eigene Unglück austoben – das ist ganz wüste Ehrlichkeit, die der gängigen Hochwertökonomie (auch dem Kunstgeschäft der Schön- und Seelenspieler Widerstand leistet.
Die Mincihmayr. Der Narr in Luc Bondys »König Lear« am Burgtheater: ein Narrenkind. Minichmayr im engen Frack, ein rauchstimmiges Zwerglein, körperverdreht, rückgratweich, ein Gelenkgummi mit Pudelmütze, der Spastiker als Spaßtiker – weinen wird sie um das »Onkelchen« Lear, ihn streicheln, und ach, so wunderbar, wie Bondy das Rätsel auflöst, warum dieser Narr von Shakespeare, beinahe unvermittelt, aus dem Stück genommen ward. Lear braucht ihn nicht mehr, er wird weise, also selber Narr. Sein Närrchen erstarrt, wird von einem Bühnenarbeiter wie eine Puppe hinausgetragen. Ein Augenblick zum Weinen.
Nun ist die Österreicherin Salzburgs neue Buhlschaft, im traditionellen »Jedermann« auf dem Domplatz. Nach Hoss, nach Ferres, nach Rois, nach Lyssewski, nach Bäumer und so vielen Stars davor. Birgit Minichmayr: In Brandauers »Hamlet« die Ophelia, in Grübers »Ödipus in Kolonnos« die Iphigenie, in Bondys »Anatol« die Tänzerin Annie, in Szábos Furtwängler-Film »Taking Sides« (Partnerin von Harvey Keitel). Sie ist eine starke Schauspielerin mit ungefälscht wirkender Aura, mit Mut zum heftigen Ausdruck, mit rücksichtsloser Lust am Ungehobelten. Sie wirkt am keuschesten, wenn sie sich schrankenlos zu entblößen scheint; und der klassische Vers springt ihr wie ein Umgangswort lässig aus dem Hals.
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