Wir werden nicht ernst genommen

Marion Drögsler, Vorsitzende des Arbeitslosenverbandes, über sozialen Protest und den Zusammenhang zwischen Arbeit und Glück

  • Lesedauer: 7 Min.
Das Paternosterfahren ist Marion Drögsler ein Gräuel. Dabei hat die 49-Jährige ein ständiges Auf und Ab in den letzten 20 Jahren zur Genüge erlebt. 1990 machte sie ihre erste persönliche Erfahrung mit Arbeitslosigkeit. Umschulungen, ABM, 249h-Beschäftigungen – sie hat alles durch. Auch die Berg- und Talfahrten der Interessenvertretung für Arbeitslose hat sie nicht nur mit Abstand betrachtet. Denn seit 18 Jahren engagiert sich die studierte Lehrerin in der Erwerbslosenbewegung und Schuldnerberatung. Mit der heutigen Vorsitzenden des Arbeitslosenverbandes Deutschland sprachGabriele Oertel.

ND: Experten sagen für 2014 nur noch 1,8 Millionen Arbeitslose in Deutschland voraus und nennen die zu erwartende Arbeitslosenquote von 4,5 Prozent Vollbeschäftigung. Hat sich in vier Jahren der Arbeitslosenverband erledigt?
Drögsler: Wir erledigen uns erst, wenn der letzte Arbeitslose in Arbeit gekommen ist. Ich glaube weder an die 1,8 Millionen Arbeitslosen noch gar an Vollbeschäftigung.

Für Sie bedeuten 1,8 Millionen keine Vollbeschäftigung?
Wenn 1,8 Millionen Menschen ohne Arbeit sind, gibt es keine Vollbeschäftigung – voll heißt nun mal voll. Zudem bleibt die Frage, wo die restlichen drei Millionen abgeblieben sind – im Niedriglohnbereich oder bei der sogenannten prekären Beschäftigung? Die haben wir jetzt schon millionenfach. Unzählige arbeiten 40 Stunden und müssen sich hinterher trotzdem beim Jobcenter anstellen, weil ihr Lohn für ein normales Leben nicht ausreicht. Das ist doch keine Vollbeschäftigung!

Die Arbeitslosenzahlen sinken und Sie sind nicht wirklich froh?
Die sinken doch nur statistisch. Mit Kunstgriffen werden immer mehr Menschen aus der Statistik herausgerechnet – in der Realität ist die Zahl der Betroffenen viel größer als offiziell ausgewiesen.

Besagte Experten sagen, dass der Rückgang der Arbeitslosigkeit an Schröders Agenda-Politik liegt. War also der Aufschrei auch vom Arbeitslosenverband zu voreilig?
Unser Aufschrei gegen Schröders Agenda mit einer Massenpetition von 40 000 Unterschriften im Bundestag war zu leise. Der hat niemanden in der Politik wirklich gestört. Fest steht, die Agenda 2010 hat keinen einzigen normalen existenzsichernden Arbeitsplatz geschaffen. Diese Art von Kürzungspolitik ist keine Lösung für die Probleme in Deutschland.

Aber die Luft ist dennoch irgendwie raus. Montagsdemonstrationen sind seltener geworden. Inzwischen hat sich die Öffentlichkeit offenbar an Hartz IV gewöhnt.
Viele haben aufgegeben, sich dagegen zu wehren. Der Widerstand ist zu gering und zu zersplittert. Es ist heute kaum möglich, mit Gewerkschaften und Vereinen eine gemeinsame große Demonstration auf die Beine zu bringen. Aber so lange der Druck von unten von der Regierung nicht mal gespürt wird, so lange wird sie an ihrer unsozialen Politik festhalten.

Spüren Sie eine gewisse Lethargie auch im Arbeitslosenverband?
Wenn wir versuchen, zu einer Demonstration zu bewegen, ist das schwierig. Die Bereitschaft, für andere einzutreten, ist wenig ausgeprägt. Wenn es um eigene Probleme geht, ist das anders – das sieht man an der Klageflut gegen Entscheidungen der Jobcenter.

Wie viele kommen zu den Beratungen in Ihren Verband?
In Berlin haben wir in unseren drei Zentren in Hohenschönhausen-Lichtenberg, Treptow-Köpenick und Marzahn-Hellersdorf zwischen 2000 und 2500 Beratungen pro Monat – und es werden ständig mehr. Das bestätigen auch die Landesverbände in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen – in Sachsen und Sachsen-Anhalt sind sie leider in Insolvenz gegangen. Neben den Beratungen haben wir besonderen Zulauf bei den Tafeln und bei den Kleiderkammern – also immer da, wo es direkte materielle Hilfe gibt.

Oder zusätzliche materielle Not abzuwenden ist, wie beispielsweise durch Ihre Schuldnerberatung.
Die ist leider Geschichte. Wir hatten als Arbeitslosenverband seit 1991 in Berlin-Marzahn eine Schuldnerberatungsstelle, die wir tapfer bis zum 31. 12. 2009 gerettet haben. Jedes Jahr haben wir die Mittel beim Bezirksamt wieder neu beantragen, jedes Jahr die Förderung erhalten, ohne dass ein Trägerwechsel stattgefunden hat.

Und nun nicht mehr?
Das Bezirksamt hat – bislang als einziges in Berlin – ein sogenanntes Interessenbekundungsverfahren durchgeführt, an dessen Ende aus vier Bewerbern ein anderer Träger ermittelt wurde. Und der Arbeitslosenverband, der das 18 Jahre gemacht hat, war plötzlich draußen. Die linke Bürgermeisterin war für unsere Argumentation, dass wir mittlerweile große Erfahrungen und mehr als 900 Klienten haben, leider nicht zugänglich. Selbst die zuständige Richterin, die mit uns seit Jahren zusammenarbeitete, hat für uns ein gutes Wort eingelegt. Es half nichts. Wir mussten Schuldnerberater und Verwaltungskräfte entlassen.

Sie beklagen eine Zersplitterung des Widerstandes gegen die Agenda-Politik. Ist das auch ein Vorwurf an die Oppositionsparteien?
Die Tatsache, dass die Opposition nicht gemeinsam gegen die Ausgrenzung Arbeitsloser Front macht, strahlt auch auf die Betroffenenverbände aus. Würde Widerstand mit den Gewerkschaften gemeinsam unter Einbeziehung der verschiedenen Arbeitsloseninitiativen versucht, wären wir schon weiter. Gerade im Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung irgend etwas gemeinsam auf die Beine zu bringen, was von den Regierenden wahrgenommen wird, erweist sich als sehr schwierig.

Woran liegt das?
Bei den Gewerkschaften daran, dass sie sich nur für Arbeitnehmer zuständig fühlen und nicht für Arbeitslose – ohne zu bedenken, dass der, der heute Arbeit hat, morgen arbeitslos sein kann. Erwerbslo-seninitiativen haben nicht die Macht wie Gewerkschaften, wir sind auf finanzkräftige Partner angewiesen. Der Punkt ist, dass man uns immer noch nicht ernst nimmt.

Auf der Betroffenen-Couch von Anne Will und Sandra Maischberger sind Sie – während Politiker über Arbeitslosigkeit schwafeln – oft Gast. Der richtige Platz?
Es ist auf jeden Fall wichtig, dass die Betroffenen eine Stimme haben und authentisch sind. Politiker nehmen das nicht immer so ganz ernst. Aber je mehr Betroffene sich zu ihrer Situation äußern können, desto mehr muss es auch die Regierung zur Kenntnis nehmen.

Sie sind Stammgast bei der alljährlich stattfindenden Denkwerkstatt, die Linkspolitiker Helmut Holter im Nordosten ganz ohne Couch organisiert. Fühlen Sie sich dort besser aufgehoben?
Nicht nur wegen der fehlenden Couch. Dort kommt man zusammen, um zu denken – was ja wahrlich nicht immer in den üblichen Politikerrunden stattfindet. Nicht nur, dass in der Denkwerkstatt eine sehr freundliche Atmosphäre herrscht – der Arbeitslosenverband wird dort wirklich sehr ernst genommen. Das macht Spaß.

Bei der jüngsten Denkwerkstatt haben Sie mit dem Ex-Volkswirt der Deutschen Bank, Norbert Walter, über Arbeit, Lebensqualität, Glück diskutiert. Kann man seine Zeit nicht sinnvoller verbringen?
Ach, es ist doch gar nicht so verkehrt, mal über Glück zu reden. Was ist für den Einzelnen, auch für den von Arbeitslosigkeit Betroffenen – Glück? Für viele Langzeitarbeitslose gibt es das Glück vorwiegend nur noch im familiären Bereich. Da sind viele Arbeitslose wahre Künstler – wie sie das immer wieder fertig bringen, die Familie mit ihren finanziell begrenzten Mitteln nicht hängen zu lassen, wie sie sich rührend um ihre Kinder kümmern.

Auch wenn das nicht das Thema von Norbert Walter ist – ich weiß gar nicht, ob der weiß, was Sozialleistungen sind –, ein Austausch über solche Fragen quer durch die Gesellschaft ist wichtig. Es gibt mir auch immer wieder Gelegenheit, auf die Verletzungen von Menschenwürde durch die Politik, aber auch auf diversen Ämtern hinzuweisen. Und zu sagen, dass bei den meisten Arbeitslosen zum Glück auch ein Arbeitsplatz gehört.

Vorsicht! Die landläufige Meinung lautet: Die Arbeitslosen wollten gar nicht arbeiten ...
Irrtum. Meine Erfahrungen aus inzwischen 18-jähriger Erwerbslosenarbeit sind: Menschen wollen arbeiten. Und zwar egal, wie alt und wie qualifiziert sie sind. Was sich allerdings in den letzten Jahren verstärkt hat, ist Resignation und Ohnmacht. Arbeitslose Jugendliche sind ausgesprochen depressiv, weil sie bis zum 25. Lebensjahr in der Familie bleiben müssen und dort auch nicht immer mit Begeisterung aufgenommen werden. Da gibt es viele Konflikte zwischen den Generationen.

Kürzlich war der Arbeitslosenverband bei SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles zu Gast. Hat es etwas gebracht?
Immerhin war es nach 20 Jahren unserer Existenz ein erstes Kennenlernen. Natürlich ist die SPD mit unserer Kritik an der Agenda 2010 nicht einverstanden. Aber ich denke dennoch, dass wir einen Schritt gemacht haben, um weiter in der Politik ernst genommen zu werden. Es gab zwischen SPD und uns gleiche Positionen, was das Sparpaket der Bundesregierung betrifft und die Notwendigkeit, sich dagegen zu wehren.

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