Notizen aus Venedig

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.

Venedig begnügt sich mit der Erinnerung an sich selbst, und der Tourist irrt ratlos in diesem Gruselkabinett umher, dessen Hauptattraktion das Wasser ist.
JEAN-PAUL SARTRE

Ich bin ein bisschen seekrank. Eine solche Auskunft aus Venedig mag verwundern. Immerhin handelt es sich nicht um die MS Venedig, sondern um die steinerne Urzelle eines weltumspannenden Handelskapitalismus. Aber aller Schwerkraft zum Trotz: Venedig schwimmt. Es ist sozusagen die Mutter aller Liquidität. Und wenn man hier nicht einfach mal so über die Straße gehen kann, sondern auf den nächsten Vaporetto warten muss, dann hat das seinen Preis. Selbst die vielen Kirchtürme neigen sich bedenklich, als tauchten sie gerade in eine tiefes Wellental. Warum sollte es mir anders gehen? Zuerst hatte ich den Verdacht, zu viel Chianti Classico könnte schuld sein, dass nachts mein Bett hin und her schaukelt. Es hebt sich bis auf den Wellenkamm, dann senkt es sich wieder herab. Um sich plötzlich in die Kurve zu legen.

Und dann wusste ich es: Der Weg zum Lido hin und zurück, macht täglich neunzig Minuten Seefahrt über die offene Lagune. Und der Vaporetto rollt dabei wie eine liebestolle Katze hin und her. Und wenn man an Land kommt, schwimmt man weiter, weil ganz Venedig schwimmt. Wenn ich hier noch etwas lerne, dann den Seemannsgang!

Als Philosoph hat Sartre natürlich sofort bemerkt, dass so viel Wasser das evolutio-

näre Koordinatensystem der Menschwerdung auf den Kopf stellt. Denn schließlich begann alles Leben im Wasser nicht, um für immer darin zu bleiben. Allerdings: Schwimmen ist anstrengend. Fast schon Arbeit. Sartre kann das wieder einmal viel besser sagen, darum sei er hier ausnahmsweise nicht bestohlen, sondern zitiert: »Das Wasser Venedigs verleiht der gesamten Stadt ganz leicht das Kolorit eines Albtraums; in Albträumen nämlich lassen uns Werkzeuge im Stich, geht der gegen den mörderischen Irren gerichtete Revolver nicht los, in Albträumen fliehen wir vor einem Todfeind, der uns dicht auf den Fersen ist, und wird die Fahrbahn, wenn wir sie überqueren wollen, auf einmal weich.«

Das ist ein echter Venedig-Traum, denn wenn man hier über die Hauptstraße, den Canal Grande zu Fuß gehen wollte, müsste man Jesus sein, wie ihn sich ein frommer Beter vorstellt. Neulich haben die venezianischen Seeverkehrsbetriebe einen ganzen Tag lang gestreikt, da war Schwimmen plötzlich eine echte Alternative.

Genug vom Wasser? Finde ich auch. Aber es ist allgegenwärtig. Nicht nur in den Kanälen plätschert es beharrlich rund um die Uhr, sondern auch schwarze Wolken gießen es – Wasser zu Wasser! – hier im Übermaß herab, oder es kommt von unten, zwängt sich durch jede Steinritze bis es knapp über dem Rand jedes Gummistiefels steht. Und wenn es mal tropisch heiß ist, dann ist man selber derjenige, dem endlose Ströme von

Wasser über die Haut laufen.

Wer sich hier ein bisschen mit dem Wetter auskennt, der verlässt die Wohnung

niemals, ohne sie zuvor seefest zu machen. Die Verriegelung jedes Fensters prüfen, Läden vor – selbst wenn der Himmel strahlend blau ist! Eine Stunde später kann schon das Unwetter toben. Einmal vergaß ich es und hätte daraufhin beinahe Venedigverbot erhalten wegen fahrlässigen Aufweichens seiner historischen Bausubstanz. Und weil Venedig knapp vor dem Alpenrand vor Anker liegt – was man nur an besonders klaren Tagen sieht –, sitzen die Gewitter hier in der Falle. Sind sie einmal da, bleiben sie. Im Sommer 2006 einen ganzen Monat. So zwischen Blitz, Donner und endlosen Sturzfluten kam ich mir unter dem Dach vor wie in einer nicht endenden Seeschlacht. Und dann, plötzlich eines Morgens, lag die Stadt da wie eine frisch gebadete Fata Morgana, ausgestreckt im milchigen Licht. Himmel, Wasser und Stadt schienen eins geworden, alle trennenden Grenzen waren wie von einem sanften impressionistischen Pinselstrich fortgenommen. Angesichts solcher Bilder, was macht da schon das bisschen Seekrankheit?

(Fortsetzung folgt)

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