Als müsste ihr die Brust zerspringen

Sadae Kasaoka, eine Überlebende aus Hiroshima, erzählt ihre Geschichte

  • Till Mayer
  • Lesedauer: 8 Min.
»Ich spüre es, sie war hier«, sagt Sadao Kasaoka im Gedanken an ihre Mutter. Fotos: Till Mayer
»Ich spüre es, sie war hier«, sagt Sadao Kasaoka im Gedanken an ihre Mutter. Fotos: Till Mayer

Frau Sadae Kasaokas Ort des Erinnerns ist unscheinbar. Nicht so beindruckend wie die Ruine des Friedensdenkmals im Herzen der Stadt, dessen Kuppel aus Stahlträgern Ehrfurcht lehrt. Nicht so ergreifend wie der grasbewachsene Hügel im »Peace Memorial Park«, der die Asche von 70 000 Menschen birgt. Es ist ein Flussabschnitt mit hohen Dämmen links und rechts. Dahinter reihen sich Hochhäuser, durch einen dünnen Grünstreifen und Straßenasphalt vom Wasser getrennt.

Frau Kasaoka kann nicht einmal sicher sein, dass dies der richtige Ort zum Erinnern ist. Verloren steht sie auf dem Damm, blickt ihn entlang, auf der Suche nach einem Zeichen aus der Vergangenheit. Sie kann keines mehr entdecken.

»Früher, zu meiner Kindheit, sah hier alles anders aus. Nicht diese hohen Dämme und Häuser«, erzählt die alte Dame. Ein Nachbar will hier ihre Mutter zuletzt gesehen haben, damals am 6. August 1945, nachdem die Bombe auf ihre Heimatstadt gefallen war. Als ein gigantischer Feuersturm über das Stadtzentrum brauste. Ihre Mutter muss schwerste Verbrennungen erlitten haben. Sie befand sich nahe dem Hypozentrum. In dem Chaos nach der Explosion wurde sie von ihrem Mann getrennt.

Zeit heilt nicht alle Wunden

»Ohne jedes Wissen, was aus ihrem Mann und ihren Kindern geworden ist. Keinen Abschied nehmen zu können, wie muss das meine Mutter gequält haben. Mir selber tut es weh, wenn ich daran denke«, erklärt Sadae Kasaoka.

Es sind Augenblicke der Erinnerung, in denen Frau Kasaoka meint, ihre Brust müsste einfach zerspringen. Weil es sie wundert, dass so viel Schmerz dort Platz findet. Nach all den Jahren, das hat sie gelernt, wird Trauer nicht weniger. Zeit heilt nicht alle Wunden. Besonders wenn das Schicksal selbst einen Abschied verwehrt.

Frau Kasaoka hatte nicht die geringste Chance, ihre Mutter zu finden. Sie musste sich um ihren Vater kümmern, der bis zur Unkenntlichkeit verbrannt war. Ihr älterer Bruder brachte ihn auf einer Schubkarre zum schwer beschädigten Haus der Familie. Der junge Mann hatte die ganze Stadt abgesucht, um auch seine Mutter zu finden. So weit es im Chaos ging, so weit es die Flammen zuließen. Das Feuer, das nicht aufhörte zu brennen, bevor das ganze Stadtzentrum eingeäschert war. 70 000 von 76 000 Gebäuden wurden zerstört oder beschädigt. Vermutlich 70 000 bis 90 000 Menschen starben in unmittelbarer Folge, als die Bombe in 580 Meter Höhe über einem Krankenhaus zündete: als ein Feuerball mit einer Innentemperatur von über einer Million Grad Celsius. Mit 3000 bis 4000 Grad Celsius Hitze tobte das Feuer infolge der Explosion über Straßen, Häuser, Bäume und Menschen.

Durch die Verstrahlung und die Folgen ihrer Brandverletzungen kamen in den folgenden Wochen weitere Zehntausende ums Leben. Bis Jahresende 1945 stieg die Zahl der Bombenopfer auf schätzungsweise 140 000. Bis heute sterben »Hibakushas«, die Atombombenüberlebenden, an Krebserkrankungen, die auf die Strahlenkontamination zurückzuführen sind. Im Register der Atombombenopfer stehen 263 945 Namen.

Frau Kasaoka denkt beim Atombombenabwurf weniger an Zahlen als an Gesichter vertrauter Menschen, die ihr plötzlich fremd waren. »Hätte ich nicht seine Stimme gehört, ich hätte meinen eigenen Vater nicht erkannt. Sein Gesicht war völlig geschwollen, seine Kleidung verbrannt, sein Körper völlig schwarz und glänzend«, erinnert sie sich. Sie braucht eine Pause, bevor sie weitererzählen kann.

Als die Bombe explodierte, stand sie nahe dem Fenster ihres Elternhauses, 3,8 Kilometer vom Hypozentrum entfernt. Durch Zufall hatte sie einen Tag vom Arbeitsdienst frei. Am nächsten Tag sollte sie in einer Rüstungsfabrik ihren Einsatz beginnen. »Das Glas des Fensters färbte sich in ein tiefes Rot, nein es war eine Mischung aus Orange und dem Licht der aufgehenden Sonne. Dann barst das Fenster«, erklärt die 78-Jährige. Es grenzt an ein Wunder, dass die damals 13-Jährige Sadae nur einige Schnittwunden erlitt.

Die Verbrennungen ihres Vaters gingen dagegen tief. Löst sich die verkohlte Haut, sieht darunter das rote Fleisch hervor. »Es war ein so schrecklicher Anblick. Es stank, die Fliegen kamen und setzten sich auf die Wunden. Bald begannen die Maden darin zu kriechen«, sagt Frau Kasaoka. Die Rentnerin streckt beim Erzählen kurz hilflos die Arme aus, wirkt für einen Augenblick wieder wie das Schulmädchen Sadae: ohne Medikamente, ohne Salben für ihren Vater. Ein Mädchen, das mit ihren 13 Jahren nicht weiß, wie es in solch einer Situation bestehen soll.

Nur Asche und Haare als Erinnerung

Ihr Vater fragte nach seiner Frau, bat immer wieder um Wasser. Doch in der Stadt hieß es, man dürfe den »Verbrannten« nichts zu Trinken geben, weil sie sonst sterben. »Das war Unsinn. Bis heute bedauere ich, dass ich ihm nichts gegeben habe. Wie hat er deswegen noch leiden müssen.«

Frau Kasaoka senkt den Kopf, berichtet, wie sie Tomaten und Gurken erntete. Sie wollte aus Gemüse und Kartoffeln einen Brei machen, um ihn zur Kühlung auf das verbrannte Fleisch zu legen. Dabei sah Teenager Sadae »Geister« schweigend am elterlichen Feld vorbeiziehen. Eine Gruppe völlig weißer Gestalten, von deren Armen und Beinen eigenartige Fetzen herabhingen. Erst später verstand das Mädchen, dass es Bombenopfer waren. Von der Asche wie mit Puderzucker bestäubt, die herabhängenden Fetzen, das war verbrannte, sich schälende Haut.

Am 8. August starb der Vater. Den Leichnam verbrannten sie am Strand mit Holz, das sie aus Ruinen gezogen hatten. Links und rechts von ihnen stieg weiterer Rauch auf. Der Tod roch nach verbranntem Fleisch. Und ein 13-jähriges Mädchen hoffte vergebens, dass der Albtraum endet. Bis heute ist die alte Frau davon überzeugt, damals Irrlichter gesehen zu haben: »Sie sahen wie Seelen von Toten aus. Die Atombombe raubte jäh das Leben so vieler Unschuldiger und mit ihnen all ihre Träume und Hoffnungen.«

Nicht viel später erfuhr sie das Schicksal ihrer Mutter. Sie soll auf die vorgelagerte Insel Ninoshima evakuiert worden sein. Dort stand der Name der Gesuchten auf einer Liste. Sie starb am gleichen Tag wie ihr Mann. Sadeas Bruder kam mit Asche und Haaren von der Insel zurück. Die Asche war vermengt mit der von unzähligen anderen, die gleichzeitig auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden waren. »Wir wussten nicht einmal, von welchen Menschen die Asche stammte«, sagt die 78-Jährige.

Für Sadae ging das letzte Stück ihrer alten Welt unter. Ein Jahr später bekam das Mädchen einen Hautausschlag, dann drei schwarze Einbuchtungen in ihrem Arm, die für Monate nicht heilten. Sie hatte Angst, wie so viele andere zu sterben. Denn die Überlebenden begriffen, dass es nicht nur das Feuer vom Himmel war, das ihnen das Leben und die Kraft raubte. Die Spuren auf der Haut verschwanden, aber sie litt weiter an Blutarmut.

Andere Wunden vernarbten nur langsam. Das junge Mädchen vermisste seine Eltern. Sadaes Jugend war freudlos, ein Trümmerfeld wie ihre Heimatstadt. Sie wohnte bei ihren Großeltern, musste wenigstens nicht in einem Waisenhaus leben wie so viele andere Kinder und Jugendliche. »Es waren grausame Jahre«, erinnert sie sich.

Frau Kasaoka absolvierte die Oberschule und blieb in ihrer Stadt. In einer Stadt, in der schwarze Flecken auf einer Granitstufe anzeigen, wo ein Mensch gesessen hat, als ein gleißender Blitz seinen Schatten in den Stein schrieb. In der alles voller trauriger Erinnerungen ist. In der fast alle Bäume neu gepflanzt werden mussten, weil die alten den Feuersturm nicht überstanden hatten.

Wohin hätte sie sonst auch gehen können. »Hibakushas« wurden im Nachkriegsjapan bedauert, aber nicht unbedingt gerne in Firmen eingestellt. »Wer die Bombe überlebt hatte, der galt als besonders anfällig für Krankheiten. Es ist traurig, das sagen zu müssen, aber wir wurden regelrecht diskriminiert«, ärgert sich Frau Kasaoka.

Hibakusha zu sein war ein Makel

Die junge Frau musste Demütigungen erfahren: bei der Arbeitssuche, bei der Suche nach einem Bräutigam. »Für Männer war ich als Hibakusha als Ehefrau völlig unakzeptabel, wie ein Mensch mit Makel.« Sie blieb und sah, wie ihre Stadt langsam und dann mit immer schnelleren Schritten wiedererstand, wuchs und gedieh.

Endlich kam wieder Glück in das Leben der jungen Frau. Mit 25 Jahren heiratete sie. Das Paar bekam zwei Kinder. Eine kleine Familie, manchmal dachte Frau Kasaoka, ihr Herz müsste vor Stolz zerspringen.

Das Glück war jedoch nicht von Dauer. Ihr Mann war wie sie ein Hibakusha. Mit 35 Jahren starb er an Krebs. Vermutlich Spätfolgen der Strahlung. Fassungslos musste Frau Kasaoka selbst erfahren, dass sich die Bombe nach Jahren weiter ihre Opfer holt. Als Angestellte verdiente die junge Witwe nun den Unterhalt ihrer Familie. »Es war schwer, sehr schwer.«

»Ich habe lange gebraucht, bis ich mich vor wenigen Jahren entschlossen habe, meine Geschichte weiterzugeben. Es schmerzt, sie zu erzählen, aber es ist wichtig dass es jeder hört: Die Atombombe ist die Ausgeburt des Bösen. Es gibt nichts, gar nichts, das ihren Einsatz und ihren Besitz rechtfertigt. Ich kann nicht verstehen, warum die Amerikaner sie nicht auf unbewohntes Gebiet geworfen haben. Wir hätten doch trotzdem ihre Sprengkraft gesehen. Und wie konnten sie nur eine zweite Bombe werfen?« Bis heute hat sich keine USA-Regierung bei den Opferfamilien entschuldigt, bedauert Frau Kasaoka: »Immer wieder frage ich mich: Was fühlten die Verantwortlichen damals, als sie den Befehl zum Abwurf gegeben haben?«

Das Telefon klingelt. Ihr jüngerer Bruder ist am anderen Ende. Eine kurze Diskussion. »Wissen Sie, mein Bruder sagt, unsere Mutter kann niemals an diesem Flussabschnitt gelegen haben. Weil es von hier keine Evakuierungen nach Ninoshima gegeben haben soll. Er nennt einen anderen Ort. Aber ich kann es fühlen, glaube es fest. Sie war hier und hat auf dieses Wasser geblickt und an uns gedacht.«

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