Renaissance der Kollektive
Selbstorganisierte Betriebe sind wieder im Kommen
Die Kollektivisten reden von »Schatzkästchen«, wenn sie von ihren Betrieben erzählen, und lassen sich von dem Historiker Arndt Neumann nicht beeindrucken, der in seinem Buch »Kleine geile Firmen« den Niedergang der Kollektive vor 15 Jahren schildert: Denn häufig schon endete die anfängliche Glückseligkeit, einen eigenen Betrieb ohne Boss gegründet zu haben, in einer Selbstausbeutung, weil die Firmen sich auf dem Markt behaupten mussten. Die Muße blieb dabei auf der Strecke. Kollektivbetriebe waren in den 90er Jahren ein Auslaufmodell.
Mittlerweile habe der Kapitalismus sein Gesicht verändert, konstatierte Arndt Neumann auf einer Lesung am Freitag in der Meuterei, einer Kneipe in der Kreuzberger Reichenberger Straße. Die Zuhörer standen bis nach draußen vor der Tür, unter ihnen war auch Kreuzbergs Bürgermeister Franz Schulz (Grüne). Neumann skizzierte, wie die Arbeitswelt eine andere geworden ist: Überall in den Betrieben sind die Hierarchien flacher geworden, weil dies die Kreativität fördert. Einhergehend damit ist der Schrei nach Selbstbestimmung leiser geworden; die gibt es nun überall – jedoch in einem abgesteckten Rahmen, und das macht für die Kollektivisten den entscheidenden Unterschied aus. Die Lesung war der Auftakt für ein Treffen von über 40 selbstorganisierten Betrieben. Sie sind bei weitem kein Überbleibsel aus der westdeutschen Alternativbewegung der 70er Jahre, sondern viele Firmen wurden erst vor einigen Jahren gegründet. Rund 300 Beschäftigte arbeiten in Berlin in Gemeinschaftsbetrieben. Gegenwärtig erleben sie eine Renaissance.
Pierre gründete vor elf Jahren mit einem Kollegen image-shift, ein Büro für Grafikdesign. Weil sie nur zu zweit arbeiten, wollte er sich mit anderen Kollektiven austauschen und suchte den Kontakt zu ihnen. Das war der Impuls für dieses zweitägige Treffen »zum Vernetzen und Feiern«, so Pierre. »Das Richtige im Falschen« lautete das Motto – nicht trotzig, sondern eher mit der festen Überzeugung, dass beim Arbeiten das soziale Miteinander in den Vordergrund rücken müsse. Nicht alles dürfe sich um Leistung und Profit drehen.
Für Sabine Nielsen* von der Ambulanten Krankenpflege in Schöneberg ist die Arbeit im Kollektiv zudem sinnstiftend. Denn selbstorganisiert könne sie die Klienten besser betreuen, weil der Kostendruck nicht so groß sei, erklärt sie. Der Grund liege auf der Hand: In ihrer Firma mit 19 examinierten Pflegerinnen – einige arbeiten Teilzeit, andere Vollzeit – gebe es keinen bürokratischen Überbau. Und auch kein exorbitantes Gehalt für einen Chef. Die Einnahmen können direkt in die Pflege gehen und in die Entlohnung. Das Konzept funktioniert seit 28 Jahren, während der Pflegesektor allerorten in der Krise steckt.
Aber nicht alle Kollektive sind wirtschaftlich gesund. Nach wie vor kämpfen viele von ihnen ums Überleben: »Wir sind nur eine kleine Klitsche«, erzählt ein Fahrer der Kreuzberger Taxigenossenschaft. Mit Dienstleistungen lasse sich nicht viel Geld verdienen, meint eine Mitarbeiterin des Bioladens Kraut und Rüben in Kreuzberg.
Auch die Meuterei wird kollektiv betrieben und ist eine dieser »kleinen geilen Firmen«, von denen Neumann nach wie vor spricht. »Jeden Montag auf dem Plenum planen wir die Woche«, erzählt Markus, einer der neun Betreiber. Feste Arbeitszeiten gebe es nicht, und die Frage nach dem Stundenlohn findet er obsolet. Er ist mit seiner Beschäftigung zufrieden, das zähle. »Ich bin hier mit meinen Freunden zusammen und nicht mehr mit Arbeitskollegen.«
* Name geändert
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