Fortschritt in allen Sphären

Zum Tode des marxistischen Musik-Philosophen Günter Mayer

  • Gerd Rienäcker
  • Lesedauer: 7 Min.
Günter Mayer (6.11.1930–2.9.2010)
Günter Mayer (6.11.1930–2.9.2010)

Sein Tod macht betroffen – und veranlasst zum Nachdenken: über den Menschen Günter Mayer, der all seinen physischen Komplikationen beharrlich widerstand, und dies bis in die letzten Monate hinein. Über den Musiker, mit dem ich im Jahre 1960 zusammenarbeitete, dem ich noch in den neunziger Jahren und nach der Jahrhundertwende als Klavierbegleiter zur Verfügung stand – diesmal ging es um Lieder von Hanns Eisler. Über den Musikwissenschaftler, genauer: Musik-Philosophen, da, wie er oft sagte, ohne Philosophie kein Schritt auch in den Einzelwissenschaften zu machen sei. Über den Marxisten, der wusste, worauf er sich einließ, daher nicht erst seit der Wende gegen alle Verflachungen »des« Marxismus zu Felde zog, hierzu Brechts böses Wort »Murxismus« benutzte. Über den Protagonisten nicht nur politischen, nicht nur kulturellen Fortschritts, sondern den der Künste in all ihren Sphären.

Über den Analytiker, dem ganz unterschiedliche Felder der Musikkulturen in der DDR und über sie weit hinaus nahe lagen: Wiederum hatte Analyse sich der philosophischen Anstrengung des Begriffs zu stellen, wenn ihr die eigentlichen Drehpunkte nicht unter den Tisch geraten sollten: Eben deshalb war Mayer befugt, die frühen Bekundungen über sozialistisch realistische Musik in der DDR als »Dokumente beklemmender Mittelmäßigkeit« zu brandmarken.

Über den politisch Denkenden, vorab politisch Wissenden, der seiner, unserer Deutschen Demokratischen Republik die Treue hielt, und dies auch international – ohne die gravierenden Defekte nichtkapitalistischer Gesellschaften zu übersehen oder zu bagatellisieren: Wissend darum, wie wenig sie Marx' prophetische Warnungen begriffen hatten – eben deshalb durfte er auf Heiner Müller sich berufen, der meinte, nicht Marx, sondern der Versuch, Marx zu widerlegen, sei gescheitert. Freilich wusste Mayer auch darum, was machbar war und was nicht, eben deshalb galt der DDR kritische Solidarität, gepaart der Ahnung, dass der Kapitalismus in der BRD und anderswo keine wünschenswerte Alternative sei.

Nachzudenken gilt es über Günter Mayers Herkunft, und dies gerade jetzt, wenn in lautstarken Bekundungen Intelligenz vererbbar sei, will sagen, nur der »Inzucht« von Intellektuellen sich verdanke, also den unteren Schichten versagt sei. Günter Mayer ist Arbeiterkind, er war in den ersten Nachkriegsjahren selbst Arbeiter, Eisenbahner, und dies verbunden mit größter physischer Anstrengung.

Erst in den frühen bis mittleren fünfziger Jahren konnte er studieren – Philosophie, seit den späten fünfziger Jahren auch Musikwissenschaft. Freilich war ihm das Glück bedeutender Lehrer beschieden: Die Philosophen Georg Klaus und Wolfgang Heise, der Musikwissenschaftler Georg Knepler, einst Stalinist, dann sich davon abwendend – mit seinen bohrenden Fragen nicht nur über Musik und Musikkulturen haben wir uns nach wie vor auseinanderzusetzen. Dem Glück bedeutender Lehrer gesellte sich das etlicher Mitstudenten, die später von sich reden machten: Dietrich Mühlberg, Karin Hirdina, aber auch Rudolf Bahro. Daraus ergaben sich wirkliche Debatten, fernab bloßer Indoktrination, resultierte die Lust an präziser, geschliffener Formulierung, die Lust am Einspruch, Widerspruch, gepaart der Einsicht, dass marxistisches Denken nur im Streit sich herausbildet, dass, übergreifend, die »Große Methode« (Brecht) nichts für »kleine Geister«, d.h. nicht ohne die Anstrengung des Begriffs, des Gedankens zu haben sei. Darin nun kommt die proletarische Herkunft, das Bekenntnis dazu, mit den großen Auseinandersetzungen während des Studiums, mit dem Wirken danach zusammen: Theorie, bis in die hohen Abstraktionen hinein, hatte ihr Fundament in der Praxis mit all ihren Errungenschaften und Widersprüchen.

Die Felder, in denen Günter Mayer in Wort und Schrift, seit den sechziger Jahren als Lehrender, seit 1980 als Professor an der Humboldt-Universität wirkte, haben ihre Kohärenz: Zunächst galt es, mit bedeutenden Philosophien sich auseinanderzusetzen – u.a. mit Theodor W. Adorno. Dann rückten Erkundungen zur Dialektik der Musik, zur Dialektik des Materials ins Blickfeld seiner Analysen – ein Vortrag darüber, gehalten während eines internationalen Seminars Marxistischer Musikwissenschaft, erregte Aufsehen, weil er aller bisherigen Abgrenzung harsch in die Parade fuhr: Es gäbe gegenüber der materialen Entwicklung in Westeuropa »Nachhole-Bedarf«. Solche Einsicht nun konnte auf Denkfiguren von Hanns Eisler sich berufen – auf dessen Kompositionen und Texte. Wurde der Aufsatz zunächst mit Zustimmung aufgenommen, ja, in der »Deutschen Zeitschrift für Philosophie« abgedruckt, so widerfuhr ihm im Jahre 1968 harsche Abfuhr.

Überraschend für etliche – auch für mich – Mayers Plädoyer für die sogenannt Populäre Musik, namentlich für die Rockmusik: Eine Flucht vor weiteren Auseinandersetzungen im Gefilde der »Ernsten Musik« – oder die Einsicht, dass dieses Terrain nicht das Ganze, nicht einmal das Eigentliche sei, wenn es um Neue Musik ging?

Damit zusammenhängend Mayers Plädoyer für die Singebewegung, für deren spezifische Avantgarden (etwa für »Karls Enkel«, für die Gruppe »Schicht«, für Gruppen aus der BRD, aus Frankreich, Italien). Auseinandersetzung, Polemik – wie konnte derlei umgangen werden im Blick auf viele Repräsentanten einer Musikwissenschaft, die sich als marxistisch-leninistisch anpries, ohne zu begreifen, was damit gemeint sei? Ja, Mayers Invektiven taten weh, und sie sollten weh tun, damit sich etwas bewegte. Und es bewegte sich etliches: Peter Wicke wurde promoviert und habilitierte sich über Aspekte einer Soziologie und Ästhetik Populärer Musik, und er folgte seinem Doktorvater nach in der Präsidentschaft der Internationalen Assoziation Populärer Musik.

Von hier aus war der Bogen aufs Neue zu weiten: Aufnehmend die zu ihrer Zeit weitsichtigen Thesen von Walter Benjamin über den Wandel der Kunst im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, postulierte Mayer, die Medien nicht mehr nur als Reproduktions-, sondern als Produktionsinstrumente zu sehen, mehr noch, sich dafür einzusetzen, dass ihr eigentlich demokratisches Potenzial endlich fruchtbar gemacht werde – hier konnte Mayer sich auf Brechts frühe radiotheoretische Postulate berufen. Dass neuere, ja, neueste medientheoretische Arbeiten in Ost und West ausgewertet wurden, verstand sich dabei von selbst.

Solcher Weiterung nun stand seit den sechziger Jahren die Beschäftigung mit dem Denken, Wirken, Schaffen von Hanns Eisler zur Seite, mehr noch, in der Art solcher Befassung konnten die verschiedenen Themenfelder sich bündeln: Die Erkundungen zur Dialektik des Musikalischen Materials, weil Eisler zusammen mit Schönberg, Berg, Webern Teil hatte an der damaligen Entwicklung des Materials – und weil er in den späten Jahren aufs Neue zur Dialektik des Materials sich prononciert äußerte. Erkundungen zum Funktionswandel Neuer Musik, weil Eisler den Weg nicht nur zu neuen Adressaten, sondern zu neuartigen Gebrauchszusammenhängen gegangen ist im Wissen um Errungenschaften und Probleme. Erkundungen also auch zum Potenzial sogenannter »Niedriger Musik«, insofern Eisler die avancierten Verfahren hochentwickelter Komposition mit Errungenschaften des Jazz, des Schlagers, der Chanson derart zusammenbrachte, dass seine Kampflieder, Songs, Bühnen- und Filmmusiken zu den Sternstunden des Musizierens für das und im Proletariat gehören. Erkundungen schließlich, die sich auf die verfügbaren Medien als Produktionsinstrumente beziehen.

Mayers Auseinandersetzung mit dem Denken, Schaffen und Wirken von Hanns Eisler sparte Kritik nicht aus, registrierte Höhen und Tiefen, auch Male des Nicht-Gelingens, Möglichkeiten, Schwierigkeiten »Neuer Einfachheit«, auch Momente der Kapitulation vor prekären politischen Gegebenheiten, gepaart den Versuchen, darüber hinaus zu kommen. Vor allem war darüber nachzudenken, wie unbedingte Solidarität und Kritik überein kommen – fernab bequemer Landstraße!

Schließlich und endlich: Späte Schriften gingen, in der Analyse politischer Bewegungen, in der Analyse der Musikkulturen sozialistischer Länder, auch in den Analysen Eislerschen Denkens, Wirkens, Schaffens, in der Durchsicht von Errungenschaften und Komplikationen marxistischer Musikwissenschaft, aufs Ganze. Nicht nur wurde Eislers Weg konfrontiert mit Stalins Politik seit den späten zwanziger Jahren – dadurch konnten Eislers Entscheidungen, vor allem seine Spät-Werke mit Untertexten versehen, konnten tatsächliche Untertexte aufgedeckt werden, ohne die sie sich nicht begreifen lassen. Dadurch war es möglich, Widersprüche im Denken und Schaffen kenntlich zu machen, jenseits beflissener Vor-Urteile.

Auch die Errungenschaften und Probleme der Musikkulturen der DDR, ihrer Musikpolitik waren genauer zu durchpflügen: Mit, wie Mayer schreibt, »ernüchternden« Befunden: Was immer Mayer früher den Errungenschaften zuschrieb, hatte bei genauerem Hinsehen, Hinhören nur wenige Menschen erreicht. Freilich durfte es nicht bagatellisiert werden.

Ist derlei wahrzunehmen bitter für all jene, die in den unterschiedlichen Feldern der Musikkulturen im Sozialismus sich kritisch einsetzten, so paart es sich weitreichenden Postulaten triftiger Analyse: Nach Errungenschaften, Problemen, Widersprüchen, Komplikationen der Musikkulturen zu fragen, muss ganz unterschiedliche Produkte (also nicht nur Kompositionen), ganz unterschiedliche Produktionsmodalitäten (also nicht nur jene des Komponierens), ganz unterschiedliche Subjekte (also nicht nur Komponisten, Musiker, aber auch nicht nur jene, die in den Medien oder direkt in der Kulturpolitik wirken), ganz unterschiedliche Verhältnisse umfassen. Solch Postulat einzulösen, ist geboten im Blick zurück und nach vorn.

An Günter Mayers 80. Geburtstag, dem 6.11., findet ab 19 Uhr in der Berliner WABE eine Veranstaltung zu Ehren des Verstorbenen statt. Neben Musik und Gesprächen ist die Vorführung eines Video-Interviews mit Mayer geplant, das im Frühsommer 2010 entstand.

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