Zwei Schritte vorwärts, ein Schritt zurück

Ken Follett über den »Sturz der Titanen«, Krieg und Frieden und das kurze 20. Jahrhundert

  • Lesedauer: 10 Min.
Es ist ein Wiedersehen. Vor zwei Jahren sprach man auf der Buchmesse miteinander. Ken Follett (61) erinnert sich an das kleine Geschenk, mit dem sich die ND-Redakteurin für das Interview bedankte: eine Spieluhr mit der »Internationale«. Im Familien- und Freundeskreis habe diese, so der in London lebende Schriftsteller, Staunen und Freude ausgelöst. Das Gespräch 2008 befasste sich mit seinem Mittelalter-Epos: »Die Säulen der Erde« (verfilmt derzeit auf SAT 1, montags 20.15 Uhr) und »Die Tore der Welt«. Nun hat er einen neuen Roman auf den Markt gebracht, »Sturz der Titanen« (Lübbe, 1022 S., geb., 28 €). Mit dem Bestseller-Autor sprach in Berlin Karlen Vesper.

ND: Gratulation zu Ihrem neuen Roman, mit dem Sie – nach Ihrem Ausflug ins Mittelalter – wieder die Bühne des 20. Jahrhunderts betreten, sich ins »Jahrhundert der Extreme« begeben, wie Eric Hobsbawm es nennt.

Follet:Ich habe sein Buch aufmerksam gelesen. Und da sah ich den Stoff für eine Trilogie: das kurze 20. Jahrhundert, 1914 bis 1989.

Von der »Urkatastrophe«, dem Ersten Weltkrieg, bis zum Fall der Berliner Mauer, dem Ende des Kalten Krieges.

Ja, das ist die Zeitspanne meiner Trilogie. Neulich traf ich Hobsbawm bei einem Dinner. Ich dankte ihm für die Idee.

Hat er Ihren ersten Band, »Sturz der Titanen«, schon gelesen?

Ich glaube nicht. Ich werde ihm ein Exemplar schenken.

Wie würden Sie das vergangene Säkulum charakterisieren? Was fasziniert Sie an diesem?

Mich beeindruckt dieser frappierende Gegensatz. Das 20. Jahrhundert ist die gewalttätigste Periode in der Menschheitsgeschichte, zugleich ein Jahrhundert der Ideale. Ein Jahrhundert, in dem viele Völker der Erde zur Demokratie fanden und sich von Fremdbestimmung befreiten. Gesellschaftliche Gruppen erstritten sich Rechte und Freiheiten, die ihnen bis dahin vorenthalten waren. Die Frauen errangen Gleichberechtigung. Zugleich ist dieses Jahrhundert überschattet von Kriegen, Terror und Unfreiheit. Diese Widersprüche sind für mich faszinierend. Das ist unsere Geschichte.

In die wir wieder zurückgeworfen sind. Viele opferreich erkämpften Errungenschaften sind im ersten Jahrzehnt des neuen Millenniums rückgängig gemacht. Zum Beispiel schon selbstverständliche Rechte der Frauen auf einen Arbeitsplatz und Förderung im Beruf.

Geschichte bewegt sich nicht geradlinig voran. Wir gehen zwei Schritte vor, einen Schritt zurück.

Das ist optimistischer formuliert als von Lenin, der die Krise in der russischen Sozialdemokratie 1904 mit »Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück« kommentierte.

Weil wir weiter vorangekommen sind. Wenn ich mit meinen Enkelinnen über das Leben der Frauen noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts spreche, schauen sie mich ungläubig an. Als ob ich ihnen ein fantastisches Märchen erzähle. Sie können sich nicht mehr vorstellen, dass Frauen einst als schwach, nicht intelligent und zu emotional angesehen wurden, die nicht geeignet seien für solch verantwortungsvolle Berufe wie die eines Chirurgen oder Richters, geschweige denn die Fähigkeit hätten, eine Partei oder einen Staat zu führen.

Sie haben aber recht, die Schlacht ist noch nicht vorbei. Frauen verdienen noch immer oder wieder im Durchschnitt weniger als Männer. Es gibt Frauen auf mittlerer Leitungsebene, aber immer noch ganz wenige an der Spitze. Es ist also noch viel zu tun. Aber wenn wir zurückschauen, sehen wir, dass sich doch schon viel verändert hat. Und es ist aufregend, darüber zu schreiben.

In Ihren Romanen sind stets starke Frauen präsent. Im »Sturz der Titanen« zum Beispiel Maud, aus adligem Hause …

Und die Bergarbeitertochter Ethel. Maud ist eine Suffragette. Sie haben viel gelitten, wurden verhöhnt und in die Gefängnisse geworfen. Aber sie haben letztlich gewonnen. Und das ist großartig.

Ihr Roman beginnt am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Niemand konnte sich vorstellen, dass dieser vier Jahre währen würde, selbst in den bestinformierten Kreisen nicht. Wie erklären Sie sich die Illusionen? Ähnliche gab es 1933 betreffs Hitler, den österreichischen Gefreiten aus dem Ersten Weltkrieg, respektive dann über die »Blitzkriege«1939/40.

Im Falle des Ersten Weltkrieges liegt meines Erachtens der Irrtum darin begründet, dass niemand verstanden hat, was da mittlerweile für neue todbringende Waffen entwickelt worden sind: Maschinengewehre und schwere Artillerie. Ein Desaster. Das Schlachten nahm kein Ende. Tausende und Abertausende Menschen wurden auf beiden Seiten getötet, ohne dass eine der beiden Seiten einen militärischen Vorteil für sich verbuchen konnte. Die neuen Waffen waren viel effizienter und schrecklicher. Früher war ein Krieg mitunter in einer Schlacht entschieden.

Als das russische Volk das Schlachten leid war, stürzte es den Zaren, als das deutsche kriegsmüde war, jagte es den Kaiser fort. Die neuen Kriege des 21. Jahrhunderts, in Afghanistan und Irak, währen nun schon doppelt so lang wie der Erste Weltkrieg.

Das ist frustrierend.

Über 500 getötete britische Soldaten, hunderte traumatisierte Kriegsheimkehrer – wie geht die britische Gesellschaft damit um?

Es ist eine Wunde. Aber wir haben eine Berufsarmee. Der Protest wäre stärker, wenn es sich um unerfahrene Rekruten handelte.

Die russische Revolution 1917 nimmt einen gewichtigen Raum im »Sturz der Titanen« ein, die deutsche von 1918 nicht so sehr.

Weil sie abgewürgt wurde. Die russische Revolution aber wurde zu einem Fanal für die ganze Welt.

Man hat den Eindruck, mit Ihrer Trilogie wollen sie à la Tolstoi ein modernes Epos über »Krieg und Frieden« verfassen?

Bevor ich mit der Arbeit an »Sturz der Titanen« begann, habe ich Tolstois »Krieg und Frieden« noch mal gelesen. Er hat die Literaturgattung begründet, die Geschichte als ein persönliches Drama erzählt. Ein sehr interessanter Ansatz. Aber ich bemerkte, dass er nur vom Standpunkt des Betroffenen, also etwa des Soldaten, schrieb, der die Geschehnisse in seinem unmittelbaren Umfeld wahrnahm, jedoch nicht wusste, was fern von ihm entschieden wurde und sein Schicksal stark betraf. Tolstoi interessierte sich für den Lärm und den Rauch auf dem Schlachtfeld, die Gefühlswelt des Menschen, der fern von seinen Lieben mit dem Säbel ins Gefecht stürmt oder sich, verwundet, in seinem Blut wälzt. Ich wollte nicht nur die grässliche Fratze des Krieges zeigen, sondern die Leser auch die Schlacht verstehen lassen, sie mehr wissen lassen über strategische Überlegungen auf beiden Seiten, über die Entscheidungen über Leben und Tod auf höchster Ebene, in den Generalstäben und Kabinettssitzungen. Und dies so authentisch wie möglich.

Sie hatten namhafte Berater wie Richard Overy, ein auch in Deutschland geschätzter Historiker. Mussten Sie lange betteln?

Nein. Ich kenne ihn seit 20 Jahren. Er hat meine Stieftochter geheiratet. Sie sind zwar jetzt geschieden, aber er ist der Vater meiner Enkel, gehört zur Familie.

Welch Privileg, Sie haben einen Haushistoriker!

(Lacht) Ja, so könnte man es nennen.

In »Sturz der Titanen« agieren viele historische Gestalten. Welche hat Sie am meisten beeindruckt?

Ich bewundere US-Präsident Woodrow Wilson, denn er wollte nach diesem schrecklichen Weltkrieg, dass sich so etwas nicht wiederholt. Sein »14-Punkte-Programm«, das er im Januar 1918 im Kongress vorstellte, sah u. a. die Begrenzung der Rüstung vor, das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die Schaffung eines Bundes der Nationen zur Beilegung von strittigen Fragen. Er war die treibende Kraft zur Gründung des Völkerbundes, der zwar den Zweiten Weltkrieg nicht verhindern konnte und letztlich scheiterte. Aber sein Gedanke ist mit der Gründung der Vereinten Nationen 1945 wieder aufgenommen worden. Große Ideen scheitern zunächst oft erst einmal.

Wie auch jene, für die die russischen Revolutionäre antraten?

Das russische Beispiel ist das schrecklichste. Nicht nur Ideale, auch Politiker können enttäuschen. Lloyd George, unser Premier im Ersten Weltkrieg, war ein Held der britischen Arbeiterklasse. Er hat dafür gesorgt, dass die kleinen Leute erstmals Rente bekamen. Man singt noch heute Lieder auf ihn. Die Legende besagt, dass die Menschen, die am ersten Tag der Rentenauszahlung aus dem Postoffice kamen, vor Freude weinten. Aber dann hat er die Arbeiterbewegung verraten, mit den Konservativen gemeinsame Sache gemacht.

Und wie denken Sie über die führenden Bolschewiki?

Lenin ist ein interessanter Charakter. Er schien zwar keine besonders charmante Person gewesen zu sein. Auch kein großer Redner. Aber die Leute hörten ihm zu. Er hat der Revolution seinen Stempel aufgedrückt. Er war der Boss. Aber auch ohne Trotzki hätte es die Revolution so nicht gegeben. Er scheint mir viel liebenswerter gewesen zu sein, ein feiner Kerl, ein charming Guy.

Wird Trotzkis gewaltsamer Tod 1940 im mexikanischen Exil in Ihrem zweiten Band thematisiert? Und auch der Große Terror der 30er Jahre in der Sowjetunion?

In meiner Trilogie gibt es eine russische Familie, die im ersten Band mit Lew und Grigori Peschkow, zwei ganz unterschiedliche Typen, angeführt wird. Die Kinder von Grigori werden im zweiten Band wichtige Figuren sein. Ich bin jetzt in den 30er Jahren angelangt. Wichtiger als die Moskauer Schauprozesse ist mir der spanische Bürgerkrieg. Hier haben wir es mit einem sehr spannenden und für das 20. Jahrhundert symptomatischen Konflikt- und Kampffeld zu tun. Mehr verrate ich nicht.

Darf man aber noch erfahren, wie Sie den Holocaust literarisch bewältigen wollen? Diese größte Tragödie der Menschheitsgeschichte ist etwas anderes als die Pest in Ihrem Mittelalter-Opus

Der Schwarze Tod ist über die Menschen gekommen, der Holocaust war menschengemacht. Natürlich wird der millionenfache Mord an den europäischen Juden das zentrale Thema im zweiten Band sein. Da diese Geschichte jedoch sehr bekannt ist, schon in der Schule gelehrt wird, möchte ich einen neuen, ungewohnten Blick auf dieses einzigartige Verbrechen werfen. Ich weiß noch nicht genau, wie ich diese große dramatische Erzählung angehe.

Wird es im zweiten Band auch deutsche Hitlergegner geben? Oder sind die Deutschen alle nur Nazis?

Natürlich nicht. Im ersten Band habe ich den Konflikt innerhalb der deutschen Gesellschaft in der spannungsreichen Beziehung zwischen Otto und Walter von Ulrich, Vater und Sohn, einzufangen versucht. Zu den wichtigsten deutschen Akteuren werden im zweiten Band die Kinder von Walter und Maud gehören. Auch sie werden Gegensätze repräsentieren. Ich denke, der Sohn wird ein Faschist, das Mädchen eine Antifaschistin.

Aha, wieder ist eine Frau die Inkarnation des progressiven Strangs in der Geschichte. Aber, sie ist adliger Abstammung. Es waren indes eben gerade nicht die »von und zu«, die in Deutschland den Widerstand anführten.

Stimmt. Das ist bedenkenswert.

Wie erlebten Sie den Mauerfall?

Ich sah es im Fernsehen wie Millionen Menschen weltweit und konnte es wie Millionen Menschen weltweit nicht glauben, dass dies wirklich geschieht. Auch noch nicht in den nächsten Tagen und Wochen. Ich befürchtete wie viele, dass sich der Eiserne Vorhang eines Tages wieder senken wird. Es brauchte ein Jahr, bis man begriff: Die Mauer ist wirklich eingerissen. Die deutsche Wiedervereinigung hat die Welt verändert. Nichts ist mehr so wie früher. Es ist für mich immer noch erstaunlich, wie das geschehen konnte. Ich hätte es nie für möglich gehalten.

Warum nicht?

Weil ich im Kalten Krieg geboren und aufgewachsen bin. Plötzlich haben sich die alten Feindbilder und Fronten aufgelöst. Ohne einen blutigen Krieg. Und wer hätte vor 20 Jahren geglaubt, dass NATO und Russland eines Tages zusammenarbeiten würden?

Werden Sie, wenn Sie am dritten Band arbeiten, oft in Berlin sein?

Ich denke ja. Schon im zweiten Band spielen viele Szenen in der deutschen Hauptstadt, im dritten noch mehr. Denn Berlin war das Zentrum des Kalten Krieges. Ich habe ein tolles Büchlein im Internet erstanden. (Ken Follett zückt ein Büchlein im A 5-Format.) Das ist ein Baedeker aus dem Jahr 1928. Hier sind alle Plätze, Straßen und Lokalitäten, Buslinien und Straßenbahnrouten im Berlin der 20er Jahre beschrieben. Das ist sehr wertvoll. Aber ich werde natürlich auch wieder die historischen Schauplätze aufsuchen.

Sie verlassen sich also nicht auf das Internet, Google-Street-View?

Doch, auch. Das ist eine sehr nützliche Erfindung, um die Erinnerungen an die Spurensuche vor Ort aufzufrischen. Ein großartiges Geschenk für Schriftsteller. Es enthebt sie natürlich nicht eigener Fantasie und Kreativität.

Wie viel floss von Ihrer Familie in den »Sturz der Titanen« ein?

Der walisische Teil ist sehr stark von der eigenen Familiengeschichte geprägt. Mein Großvater Arthur Evans ist wie Billy Williams mit 14 Jahren in die Grube eingefahren. Meine Mutter wuchs in einer Bergarbeiterstadt auf. Ihr Mountainash ist mein Aberowen. Ich verdanke ihr die Milieubeschreibungen, die alltäglichen Sorgen und kleinen Freuden im Leben der armen, einfachen Leute. Sie hat viel erzählt.

Und Sie haben gut zugehört.

Das sollte jeder Schriftsteller. Die spannendsten Geschichten sind jene, die das Leben schreibt.

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