Was gehen denn die mich an?

Anlässlich von Martin Mosebachs raffiniert hellem, listig leichtem Roman »Was davor geschah«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Was bedeutet für einen stark ostgeformten Leser, literarisch gesehen: Ankunft im Westen? Es ist mitunter nach wie vor Grenzüberwindung. Oder eine Schmerzgeburt – von Neugier und Interesse. Denn: Lektüre ist Selbstbegegnung, und da darf einem, etwa beim Lesen eines Romans, dessen Menschenwelt nicht gar zu gleichgültig sein; es muss, selbst wenn der Roman sich weit in die Vergangenheit hinein begäbe, eine geheimnisvoll ausbalancierte Nähe des Geschilderten zur eigenen Gemüts- und Gedächtnisausstattung bestehen. Kurz gesagt: Es kann möglicherweise zur Überwindungsmühe kommen, wenn man sich von Volker Braun oder Christa Wolf oder Wolfgang Hilbig hinüberliest zum Beispiel zu Martin Mosebach. Wenn man sich also in das Buch »Was davor geschah« hineinbegibt, in die Welt von Einrichtungsberatern und anderen Geld- und Geltungs- und Gehobenheitsmenschen, hin zu Party, Pool und Posen-Prunk im glänzenden Teil der Stadt Frankfurt am Main.

Es ist dies kein prinzipielles Chemieproblem hinsichtlich bürgerlicher Lebenswelten (denn wie sonst könnte man dann genussvoll Thomas Mann lesen?!), nein, die Fremdheit zu skizzierter Personage – wir reden noch immer von einer nicht wirklich steuerbaren Ost-Besetztheit im literarischen Fühlen – ist eher ein Reflex auf die unmittelbare gegenwärtige Realität: Diese andere Welt der wichtig Scheinenden und sich wichtig Gebenden hat leider einen Ruch des Unsympathischen, des profan Protzenden – was gehen mich die an!? Ferne Gesellschaft, das. »Welt, weich in den Knien, keine/ Idee am Leib« (Volker Braun). Da setzt sich bei der Begegnung per Lektüre, so die Befürchtung, bestimmt kein Denken in Bewegung, das über die Beobachtungen vom munter oder mühsam aufrecht erhaltenen Glanz dieser Kaste hin zum Grund tieferer Dinge dieser Welt führte. Es ist so wie bei den Kleinbürgern in Romanen von Martin Walser. Ein sozial und psychisch anderer Kontinent. Bundesrepublik eben. Das ist das Urteil, das auch ein Vorurteil ist. Urteil und Vorurteil bestimmen mit, was wir lesen.

Nun denn: Es ist ein großartiges Buch, dieser neue Roman von Martin Mosebach. In die raffinierte Milde einer schier goldbesonnten Welt-Sicht getaucht, entfaltet sich ein perlendes Schauspiel der Irrungen und Wirrungen. Aber es geschieht, was in jedem guten Schauspiel geschieht: In der Leichtigkeit der Komödie geht der Geist und Sinn Gebende derart auf, als hätte es ihn nie gegeben, und Regie führt in dieser melancholischen, aber doch so inständig hellen Geschichte – das ganz selbstverständliche Dunkel der Existenz. Bundesrepublik? Welt.

Ein Ich-Erzähler, Mitte dreißig wohl etwa, ein Bankangestellter, berichtet seiner Geliebten, wie er – vor dieser Liebe – ein halbes Jahr allein in Frankfurt lebte. Und sogleich entfaltet sich das Gesellschafts-Panorama, die Glätte-Gala, die Schau der beschwingten, beschwipsten, berechnenden Seelenversehrten in jener Welt des höheren Aufwandes für mitunter niederste, nichtigste Interessen.

Allein schon die Namen! Phoebe Hopsten, Helga Stolzier, Marguerite Simserl, und Schmidt-Flex heißt ein sich spreizender Ex-Minister, und einen kleinen elfenbeinernen Christkörper »mit schweren Barlach-Augenlidern« hat man gerade bei »Pattitucci« gekauft, die Arme sind abgebrochen, Mann, »das Stück hat eine Sinnlichkeit!«

Es ist vielfach der Schein, der das Sein bestimmt; vor alles und jeden hat das Leben einen Preis gesetzt, der in diesen Kreisen standesgemäß hoch ist. Es ist eine quasi seidenbandschwebeleicht verschlungene Geschichte um den Eros, darin fast immer Geld vorkommt; um Affären, in denen Sehnsucht nach Liebe an die Herzwände klopft; um absurdeste Fügungen, die Menschen zueinander bringen, ohne dass sofort ein absehbares, wahres, festes Füreinander entstünde. Die Herrschaftlichkeit treibt's mit dem Schmierigen, die Alten düpieren ihre Jungen, die Verwöhntheit giert nach dem Billigen; alle zusammen bilden einen Dunstkreis von Eitelkeit und Spiel, Begehren und Belügen, Geschäft und Getue, Flattern und Flunkern; die ganze aufgetragene Extravaganz aber verrät doch jene Schwitze der Maskierungen, die alles dürftig und klebrig zusammenhält.

Nun drängt doch um so mehr die Frage, was wohl das Interesse an diesen Leuten aufrecht erhält. Der Dichter! Martin Mosebach erzählt in einer Sprache, die das Beschreiben der Bohlen eines Parkettbodens, einen einsamen Abend in der Wohnung, das Glucksen und Knistern im Hühnerstall der Kindheit, das Putzritual eines Kakadu, das Singen einer Nachtigall (das Wort »gurgeln« erfährt geradezu ein Adeln) zu einem wahrlich erlesenen Ereignis erhebt. Feinste Regungen, winzigste Raum-Teile, alles Lebendige und Dingliche wird Erscheinung, als male Sprache den alten Welt-Meistern des Gemäldes nach.

Die Ausführlichkeit brilliert mit Maß und Balance, auch die Knappheit weiß alles von Wirkung. Das Wort lebt eine genaue, geradezu sezierende Existenz, in der nichts unausgeleuchtet bleibt, aber der Farbton jenes Lichts, mit dem Mosebach in die Stollen der Seelen- und anderer Räume hineinstrahlt, hat – wiederholt sei das Wort des Beginns – unermessliche Milde. Jedoch sie verwischt nichts, nur sind das Böse und Bittere, das Blöde und Blinde an dieser Ballung Bundesbürger aufgehoben in einer erzählerischen Philosophie der Heiterkeit, wie man sie in der Balzacschen »Menschlichen Komödie« als Inbegriff auch all jener tragischen und traurigen Verfasstheiten findet, mit denen der Einzelne und überhaupt alle auf dieser Erde zurechtzukommen versuchen: indem sie sich mühen, als Teil der Natur zu wahrer Kultur zu gelangen. Und doch ihrer Natur nicht zu entfliehen vermögen.

Mosebach erzählt souverän lächelnd. Aber es ist ein Lächeln über Abgründen. Und weil es ein Lächeln bleibt, muss man den Roman als hohe Kultur der widerständigen Noblesse bezeichnen. Mosebach lässt sich nicht aufs Niveau der gängigen harschen und gewissheitssicheren Gesellschaftskritik herabholen. Dieser Autor sieht die geläufigen Tonlagen solcher Kritik infiziert von genau jener Grobheit, die sie anprangern.

Des Autors Güte ist schärfste Klarheit: Ihm ist die Welt, wie sie ist; aber wie sie leider ist, ist sie doch ebenfalls nur Durchlaufstadium neuer, nächster, also ewiger Ungewissheit. Freilich: Er richtet seine sarkastische Präzision nicht gegen die Menschen selbst, denen nicht aufzubürden ist, die Welt zu begreifen, das Chaos gar zu tilgen. Er steht über den Dingen, was zuvörderst bedeutet: sich nicht über die Menschen zu erheben, auch über jene nicht, die kaum mehr verkörpern als die Verwitterung einstiger gesellschaftlicher Bindung und Bildung.

»Die Gegenwart als ans Tageslicht geratene Eigenschaft der Vergangenheit«, so hat Mosebach über die Literatur Heimito von Doderers geschrieben, es ist seine eigene Sehensweise. Verlieren ist das Grundwort jeder Entwicklung; nichts hält an, nichts hält sich, nichts hält, was es versprach. Diese Erfahrung und das Empfinden von Verlust allerdings, es kann erzählt werden wider eine aggressiv machende, lähmende Verlorenheit. Mosebach erzählt von Verlusten als einer Einladung zum Leben. Weil nur dort Lebens Raum, Lebens Zeit ist. Der Trost der Verlierer liegt darin, dass aus allem scheinbar Festgefügtem Transit wird. Die Gewinner erfahren es nur ein wenig später. Mehr Gewinn ist da nämlich nie. Wie heiter. Wie schön. Unteilbare Welt.

Martin Mosebach: Was davor geschah. Roman. Hanser Verlag München. 329 S., geb., 21,90 €.

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