Antisemitismus - Anmerkungen zu einer alten Debatte
Jürgen Amendt
Lesedauer: 7 Min.
In meinem fränkischen Heimatdorf gab es früher einen Krämerladen. Dort gab es in den Tagen vor Silvester kleine Böller zu kaufen. Die großen Kracher waren nichts für unsere zarten Kinderhände. Diese kleinen Dinger aber durften wir zünden. Wenn man ein bisschen mutig war, ließ man die Mini-Böller sogar in der Hand explodieren. Es zischte ein wenig und kribbelte in der Fingerkuppe...
Die Böller hatten einen Namen - im breitesten fränkischen Dialekt nannten wir sie »Juddefözz«. Diesen Namen hatten sie schon immer - bei unseren Eltern, unseren Großeltern ... Selbst im Traum hätte ich als Kind dieses Wort nicht mit Juden in Verbindung gebracht. Juden gab es in unserem Dorf nicht. Von Juden wusste ich nur so viel: Man war einer, wenn man nicht zur Kirche ging. »Du Judd«, schimpften uns Eltern und Großeltern, wenn einer von uns Kindern sich weigerte, den sonntäglichen Gottesdienst zu besuchen. Und meine Schwester wurde »Sara« gescholten, wenn sie sich nicht dem elterlichen Willen fügen wollte. Antisemiten waren die Eltern dennoch nicht: »Judd« und »Sara« wurden von meiner Mutter in der gleichen Unschuld gebraucht, wie wir Kinder »Juddefözz« sagten.
Als ich ungefähr 12 war, berichtete mir das Fernsehen erstmals von der Shoa. Jetzt gab es auch für mich Juden, die aber, wie ich lange Zeit dachte, heute im Ausland, früher auch in Deutschland lebten. Da aber wohnten sie in großen Städten. In unserem Dorf gab es nur Katholiken und Evangelische und ein paar Muslime. 20 Jahre später erfuhr ich, dass Juden noch in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts etwa 10 Prozent der Bevölkerung unseres Dorfes stellten. Im Nachhinein war ich ganz froh, dass es in meiner Kindheit keine Juden gab. So konnten wir Kinder ohne schlechtes Gewissen »Juddefözz« zünden.
Die kindliche Unschuld haben wir längst verloren. Wir haben als Jugendliche die TV-Serie »Holocaust« gesehen, das Buch zum Film und die Tagebücher der Anne Frank gelesen. Wir waren schockiert ob der nationalsozialistischen Verbrechen. Und wir haben irgendwann Sätze wie diesen gelesen: »Antisemitismus ist ein eingeschliffenes Schema, ja ein Ritual der Zivilisation« (Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, 1944).
Das Ritual hat die Zeiten überdauert. Es brach sich Bahn, als 1978 ruchbar wurde, dass Ernst Heinrichsohn, der Bürgermeister des fränkischen Städtchens Bürgstadt, als Adjutant des Pariser Gestapo-Chefs für die Deportation von französischen Juden nach Auschwitz verantwortlich war. Ein ganzes Dorf stand damals hinter dem Mann. Eine Frau, um die 25 Jahre jung, sagte in die laufende TV-Kamera, dass doch endlich einmal Schluss sein müsse mit der »ganzen Judengeschichte«. Wenn sie ständig Dreck aufwühlten, müssten sich die Juden nicht wundern, dass niemand auf der Welt sie leiden könne. Die Loyalität gegenüber der Vaterfigur Heinrichsohn war stärker als der von der Außenwelt erwartete moralische Reflex, den Vater für seine Untaten zu verurteilen. Denkmäler müssen von den Enkeln, nicht von den Kindern geschliffen werden.
Das Ritual hat die Zeiten überdauert. Es brach sich auf andere Weise Bahn, als Jürgen Möllemann Michel Friedman vorwarf, mit seinem Verhalten im israelisch-palästinensischen Konflikt antisemitische Vorurteile zu provozieren. Von »Juddefözz« redet heute allerdings keiner mehr. Die sicheren Pfade der political correctness schützen uns vor solcherlei verbalen Entgleisungen. Auch von den kleinen »Saras« hört man immer weniger. Die Antisemiten sind weniger geworden.
Und doch: Man macht es sich zu leicht, wenn man behaupten würde, es gäbe dieses Ritual nicht mehr. Die Welt, in der wir leben, ist, wie sie ist: unüberschaubar, kompliziert, entfremdend. Antisemitismus wurzelt in der tief sitzenden Angst vor dem Neuen, der Veränderung.
Das antisemitische Klischee verspricht Halt in einer scheinbar chaotischen Welt: Fremde siedeln in unserer Nachbarschaft, die Kriminalität steigt, man traut sich aus Angst vor Attentaten nicht mehr, mit dem Flugzeug in den Urlaub zu fliegen, durch die Einführung des Euros ist alles teurer geworden. Seit jeher stand für die nicht-jüdische Allgemeinheit - und längst nicht nur für deren explizit antisemitischen Teil - das Judentum stellvertretend für den Geldverkehr. Das Bild vom geldscheffelnden Juden, der mit List und Heimtücke - oder in der philosemitisch gemeinten Variante: mit Geschick und Klugheit - seine Geldbörse füllt, ist Allgemeinplatz in der abendländischen Zivilisation. Das Bild ist eingeschliffen ins kulturelle Bewusstsein. Selbst Juden gehen mitunter - gezwungenermaßen - selbstironisch damit um.
Ein Bekannter erzählte mir einmal von folgendem Erlebnis: Er speiste mit mehreren Freunden, darunter einem befreundeten jüdischen Ehepaar, in London in einem Restaurant. Als es ans Bezahlen ging, stellte sich die Frage, ob man getrennt zahlen oder sich eine Rechnung geben lassen und hernach der Einfachheit halber den Rechnungsbetrag zu gleichen Teilen aufteilen soll. Der jüdische Freund zierte sich ein wenig, das Geld für alle vorzustrecken. »Don't be so jewish«, spöttelte daraufhin seine Frau. Alles lachte - nur die deutschen Gäste am Tisch nicht.
Ein gängiges Argument in der derzeitigen Debatte um den Streit zwischen Möllemann und Friedman ist dieses: Möllemann mag ja etwas zugespitzt formuliert haben, doch der Friedman sei ein unsympathischer Mensch, einer, der mit seiner arroganten Art den Juden keinen guten Dienst erweise. Warum nur drängt es viele Nicht-Juden beständig, die Charaktereigenschaften Friedmans zu benennen. Ist Möllemann nicht ähnlich arrogant? Erweist er uns Nicht-Juden nicht einen Bärendienst, wenn er sich beharrlich weigert, das kleine Wörtchen »Entschuldigung« gegenüber Michel Friedman über seine Lippen zu bringen? Rechthaberei, wo Sensibilität gegenüber jemandem gefragt wäre, der heute nicht leben würde, wären seine Eltern nicht von Oskar Schindler vor der Gaskammer gerettet worden. Kindischer Trotz, statt der Versuch, sich in die Gefühlswelt von Menschen einzufühlen, die vor dem Hintergrund der Erfahrung, dass selbst Anpassung und Assimilation ihre Vorfahren nicht vor der Vernichtung bewahren konnte, vielleicht besonders empfindlich reagieren. »Nächstes Jahr in Jerusalem«, begrüßten sich jahrhundertelang Juden in aller Welt beim Passah-Fest. Seit 54 Jah-
ren gibt es diese sichere Heimstatt für Juden wieder. Ich kann verstehen, dass manche gerne lieber heute als nächstes Jahr in Jerusalem wären. Auch wenn die Sicherheit dort eine nur scheinbare ist und das Leben dort in unseren Augen eher einer Sicherheitsverwahrung gleicht.
Ausgangspunkt der jüngsten Antisemitismusdebatte in Deutschland war der eskalierende Nahostkonflikt. Ein schwieriges Politikfeld: Wer Sympathien oder gar nur Verständnis für die eine Seite äußert, gerät leicht in den Verdacht, sich mit ihr gegen die andere Seite gemein zu machen. Die Selbstmordattentate der Palästinenser seien zwar nicht richtig, wird mir erzählt, aber das, was die Israelis mit den Palästinensern anstellten, sei doch mindestens ebenso schlimm, oder? Scharon sei ein skrupelloser Politiker, der sogar von seinen eigenen Leuten nicht gemocht werde. Warum aber höre ich es selten so: Der Staatsterror der israelischen Armee sei zwar die falsche Antwort, aber die Selbstmordanschläge der Palästinenser seien doch fürchterliche Taten? Arafat sei ein Despot, einer, der demokratische Strukturen in seinem Land verhindere.
Aber man muss doch Israel kritisieren dürfen, ohne gleich ein Antisemit zu sein? Sind Nicht-Juden von Juden in die Enge gedrängt, mit einem Denkverbot belegt? Darf es ein Verdikt des Nichtsagbaren geben? Heinrich Heine attestierte seinen Deutschen einst, dass sie nur im Traum frei seien.
Anderserseits: Ist es denn erstrebenswert - ein Denken und Reden ohne Tabus? Es ist Mode geworden, Tabus als antiaufklärerisch zu denunzieren. Jeder Gedanke muss ausgesprochen werden dürfen. Schrankenlos und rücksichtslos wird das Beharren auf die Sinnhaftigkeit von Tabus, die Schutzraum bieten, die individuelle und die gesellschaftliche Psyche stabilisieren, als konservativ gebrandmarkt. Die täglichen Talkshows im Fernsehen sind die Bühne, auf der die vermeintlichen Tabubrüche zelebriert werden. Längst schon hat sich die Politik auf diese Ebene begeben. Jürgen Möllemanns Angriff auf Michel Friedman ist auf diesem Niveau.
Das Ressentiment ist nur schwer unter Kontrolle zu halten. Laut Adorno und Horkheimer beruht der Antisemitismus auf »falscher Projektion«. Nicht der Einzelne macht sich im Prozess der Nachahmung der Umwelt ähnlich, sondern das Individuum mache die Umwelt sich ähnlich. Eigene Regungen, welche das Subjekt sich selbst nicht zugestehen wolle, würden den Juden zugeschrieben: »Der als Feind Erwählte wird schon als Feind wahrgenommen«.
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