Dublin II - Um jeden Preis

Die menschenunwürdigen Zustände für Flüchtlinge an Europas Außengrenze sind breit dokumentiert. Offiziell gibt es in Deutschland keinen Abschiebestopp nach Griechenland. Dennoch hat es ihn im vergangenen Jahr faktisch gegeben. In über 1000 Fällen hat das Bundesamt für Migration – obwohl formal nicht zuständig – Asylanträge von Flüchtlingen geprüft. Dies ist unter anderem dann möglich, wenn man nicht sicher ist, dass der Betroffene in einem anderen EU-Mitgliedsstaat fair behandelt wird. Und offenkundig hatte das Bundesamt diese Zweifel in Bezug auf Griechenland.

So war auch die Zahl der tatsächlichen Abschiebungen mit 49 zwischen Januar und Oktober 2010 recht klein. Nach Einschätzung von Flüchtlingsexperten hatten diese Menschen wohl keinen rechtlichen Beistand. Denn mit Anwalt seien die Chancen derzeit sehr gut, bleiben zu können. Deutsche Gerichte stoppten im vergangenen Jahr regelmäßig die Abschiebung von Flüchtlingen nach Griechenland, weil sie das nicht verantworten konnten.

Dennoch bleibt die Bundesregierung dabei: Zu diesen Fakten sagt sie am liebsten gar nichts. Jegliche Versuche, ihr Stellungnahmen in der Sache zu entlocken, sind bislang gescheitert. Jetzt wieder Abgeordnete der Linksfraktion. Zu den Berichten von Europarat, UN-Sondergesandten und Pro Asyl über desaströse Zustände im griechischen Asylsystem erklärt sie lediglich: Wir haben sie zur Kenntnis genommen. Nicht zur Kenntnis genommen hat sie dagegen, dass weit mehr als die von ihr genannten Staaten Großbritannien, Schweden, Island und Norwegen von Abschiebungen an die Ägäis offiziell absehen. Auch zu etwaigen Zaunbauten an der EU-Außengrenze will sie sich nicht äußern: Das liege in griechischer Verantwortung, heißt es nach Anfrage im Innenministerium.

Allerdings: Schweigen ist auch eine Antwort. Die Bundesregierung will damit ein Prinzip retten. Das Prinzip heißt Dublin II und lautet: Der EU-Staat, den ein Flüchtling zuerst betritt, ist für die Abwicklung eines Asylverfahrens zuständig. Deutschland in seiner Mittellage ist damit die Verantwortung für die vielen Flüchtlinge aus Afghanistan, Irak oder Somalia weitgehend los und daher nicht bereit, an diesem System zu rütteln. Statt eine gerechte Verteilung von Zuständigkeiten unter den Mitgliedstaaten zu forcieren, schickt die Regierung deutsche Beamte den Griechen zur Hilfe, die Grenze zur Türkei abzuschotten. Zudem laufen die Verhandlungen mit dem EU-Anwärter Türkei für ein Rückübernahmeabkommen auf Hochtouren.

Anfang dieses Jahres wird eine Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Dublin-System erwartet. Vielleicht trägt die dazu bei, dass die Bundesregierung die Tatsachen anerkennen muss: Das Dublin-System ist gescheitert.

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