»Niemals ist eine Bewegung derart verleumdet worden«

Aus einem Interview von Dr. Karl Marx für US-amerikanische Zeitungen vor 131 Jahren

  • Lesedauer: 4 Min.

Anfang Dezember 1878 gab Karl Marx dem Londoner Korrespondenten der Chicagoer »Tribune« ein Interview. Es erschien im Januar 1879 in mehreren US-Zeitungen. Das von unserem Autor Heinz Niemann »wiederentdeckte« Interview umfasste 19 Fragen (MEGA2 I/25, S. 429-437), es wird hier gekürzt wiedergegeben. Vorab schilderte der Journalist Eindrücke von seinen Besuchen bei Marx: »Seine Überzeugungen haben ihm von Anfang an Schwierigkeiten bereitet. Nach seinem Heim zu urteilen, haben sie ihm keinen großen Wohlstand eingebracht.« Er habe Dr. Marx stets in seiner Bibliothek angetroffen, in der einen Hand ein Buch, in der anderen eine Zigarette: »Er ist gut gebaut, breitschultrig und von aufrechter Haltung. Er hat einen Intellektuellen-Kopf und das Äußere eines gebildeten Juden. Haar und Bart sind lang und eisengrau, die schwarz-funkelnden Augen werden von buschigen Brauen überschattet«. Er sei Fremden gegenüber vorsichtig, habe er aber Vertrauen gefasst, so entfalte er »für den interessierten Besucher sein Wissen um Menschen und Dinge überall in der Welt. In der Konversation ist er nicht einseitig, sondern berührt so viele Gebiete wie die Bände in seinen Bücherschränken«.



Die Sozialisten betrachten die Überführung der Arbeitsmittel in gesellschaftliches Gemeineigentum als das große Ziel der Bewegung?
Gewiss, wir sagen, daß dies das Ergebnis der Bewegung sein wird. Doch das wird eine Frage der Zeit, der Erziehung und der Ausbildung höherer Gesellschaftsformen sein.

Dieses Programm gilt wohl für Deutschland und ein oder zwei andere Länder?
Wenn Sie nur aus einem (dem Gothaer) Programm Schlüsse ziehen wollen, so verkennen Sie die Tätigkeit der Bewegung. Spanien, Rußland, England und Amerika haben eigene Programme, die jeweils ihren besonderen Schwierigkeiten angepasst sind. Ihre einzige Ähnlichkeit besteht in dem gemeinsamen Endziel.

Und das ist die Arbeiterherrschaft?
Das ist die Freimachung der Arbeit.

Was hat der Sozialismus bis jetzt erreicht?
Zwei Dinge: Die Sozialisten haben bewiesen, daß der allgemeine Kampf zwischen Kapital und Arbeit überall stattfindet, kurz, sie haben seinen kosmopolitischen Charakter bewiesen. Sie haben daher versucht, eine Verständigung zwischen den Arbeitern der verschiedenen Länder zustande zu bringen. Dies wurde notwendiger, als die Kapitalisten stets kosmopolitischer wurden und nicht nur in Amerika, sondern auch in England, Frankreich und Deutschland ausländische Arbeiter anheuern und sie gegen die einheimischen Arbeiter benutzen. Sofort entstanden internationale Verbindungen zwischen den Arbeitern der verschiedenen Länder ... Die arbeitenden Klassen sind spontan in Bewegung gekommen, ohne zu wissen, wohin die Bewegung sie führen werde. Die Sozialisten erfinden keine Bewegung, aber sie erklären den Arbeitern ihren Charakter und ihre Ziele.

Das heißt, der Umsturz der herrschenden Gesellschaftsordnung?
In diesem System sind das Kapital und das Land im Besitz der Unternehmer, während die Arbeiter nur ihre bloße Arbeitskraft haben, die sie wie eine Ware verkaufen müssen. Wir behaupten, dieses System ist nur eine historische Phase, es wird verschwinden und einer höheren Gesellschaftsordnung Platz machen. Wir stellen überall eine Teilung der Gesellschaft in Klassen fest. Der Antagonismus dieser beiden Klassen geht Hand in Hand mit der Entwicklung der industriellen Hilfsquellen in den zivilisierten Ländern. Vom sozialistischen Standpunkt aus gesehen, sind bereits die Mittel vorhanden, um die gegenwärtige historische Phase revolutionär zu verändern. In vielen Ländern haben sich aus den Gewerkschaften politische Organisationen entwickelt. In Amerika ist deutlich geworden, daß man eine unabhängige Arbeiterpartei braucht. Die Arbeiter können den Politikern nicht mehr trauen. Spekulanten und Cliquen haben sich der gesetzgebenden Körperschaften bemächtigt, und die Politik ist ein Geschäft geworden ...

Sie haben auch zugunsten der Pariser Kommune geschrieben?
Gewiß habe ich das getan, angesichts dessen, was in Leitartikeln über sie geschrieben wurde. Jedoch die Pariser Korrespondenzen in der englischen Presse widerlegen hinreichend die Behauptungen der Leitartikel über Plünderungen usw. Die Kommune hat nur ungefähr 60 Menschen getötet. Marschall Mac Mahon und seine Schlachterarmee haben mehr als 60 000 getötet. Niemals ist eine Bewegung derart verleumdet worden wie die Kommune.

Halten die Sozialisten Mord und Blutvergießen für notwendig zur Durchführung ihrer Grundsätze?
Keine einzige große Bewegung ist ohne Blutvergießen geboren worden. Die Vereinigten Staaten errangen ihre Unabhängigkeit durch Blutvergießen, Napoleon hat Frankreich durch blutige Geschehen erobert, und er ist auf die gleiche Weise überwunden worden. Italien, England, Deutschland und jedes andere Land liefern weitere Beispiele derselben Art ... Die Jesuiten haben getötet, und die Puritaner unter Cromwell haben getötet. All das geschah, ehe man von Sozialisten gehört hatte. Heute macht man jedoch für jeden Attentatsversuch gegen ... Staatsmänner die Sozialisten verantwortlich. Der Tod des deutschen Kaisers würde von den Sozialisten gerade jetzt besonders bedauert werden: er ist auf seinem Posten sehr nützlich, und Bismarck hat für unsere Bewegung mehr als irgendein anderer Staatmann getan, weil er die Dinge auf die Spitze treibt.

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