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Anarchist und Schulreformer

Francisco Ferrer gründete vor 110 Jahren eine »Moderne Schule«

  • Birgitt Schmidt
  • Lesedauer: 5 Min.
Vor rund hundert Jahren wurde in New York die erste der sogenannten Modern Schools gegründet. Der Jahrestag erinnert an den Ideengeber dieser Schulbewegung, den Anarchisten Francisco Ferrer, der 1909 Opfer eines Justizmordes in Spanien wurde. Heute sind die Schulen weitgehend in Vergessenheit geraten, Ferrers reformpädagogischen Ideen haben dagegen überlebt.
Francisco Ferrer
Francisco Ferrer

Von seiner energischen Mutter bekam der Maler Fermin Rocker, Sohn von Rudolf Rocker und Milly Witkop, bisweilen »ein paar kräftige Schläge verpasst«, wie er in der Schilderung »East End. Eine Kindheit in London« berichtet. Üblicher für das anarchistische Milieu, in dem sich die Familie bewegte, war jedoch das Verhalten des Vaters, das Fermin als durchgängig sanft und liebevoll beschreibt, und von dem er nie mehr als einen milden Tadel erhalten habe. »Ich wurde tatsächlich mit einem großen Maß an Rücksicht behandelt«, erinnert er sich, »besonders wenn man es mit der Art und Weise vergleicht, mit der meine Zeitgenossen aufgezogen wurden, für die Ohrfeigen und Schläge zum täglichen Leben gehörten.«

Als Anarchist verstand sich auch der heutzutage fast vergessene spanische Pädagoge Francisco Ferrer y Guardia, auf dessen Schulgründung vor 110 Jahren zahlreiche Konzepte der modernen Pädagogik und des aktuellen Bildungsgedankens zurückgehen: 1901 gründete der Katalane in der Nähe von Barcelona seine erste Escuela Moderna (Moderne Schule), mit der er sich dezidiert vom katholisch-autoritären Schulwesen abgrenzen wollte. Ferrer wollte den Einfluss der Kirche auf die Kindererziehung eliminieren, die Kinder angstfrei unterrichten, also nicht bestrafen, sich an ihren Interessen, an ihrer Neugier orientieren und den Vernunftgedanken in den Mittelpunkt ihrer Unterweisung stellen. Doch weniger sein zu damaliger Zeit revolutionäres Pädagogikmodell sorgte für Aufsehen, Ferrer und seine Ideen wurden international bekannt, als er im September 1909 festgenommen und in der Festung Montjuich in Barcelona gefangen gehalten wurde. Ferrer wurde mit dem Vorwurf konfrontiert, den im Juli in Barcelona stattgefundenen Aufstand und Generalstreik vorbereitet zu haben, für schuldig befunden und am 13. Oktober hingerichtet.

Der Justizmord an dem überzeugten Pazifisten und Freidenker sorgte für einen weltweiten Aufschrei. Fermin Rocker schreibt, dass das Entsetzen und die Entrüstung über das Geschehen der Empörung über die Hinrichtung der Italiener Sacco und Vanzetti fast zwanzig Jahre später glich.

Getragen von der breiten Empörungswelle entstanden zahlreiche Schulen, die Ferrers Modellschule imitierten und seinen Namen trugen: Kurz nach seinem Tod gab es bereits eine Ferrer-Schule in Warschau und mehrere in Großbritannien. Allein in den USA entstanden zwanzig, wobei die berühmteste von ihnen, die Stelton School im Ferrer-Center in New York vor hundert Jahren, im Jahr 1911, gegründet wurde und insbesondere unter den aus Osteuropa und Russland eingewanderten Juden großen Anklang fand. Wie bei der anarchistischen Szene im Londoner East End, wo mit Fürst Pjotr Kropotkin ihr großer Vordenker lebte und Rudolf Rocker mit Gleichgesinnten den jiddisch-sprachigen »Arbeiterfreund« herausgab, fand der Anarchismus in den USA vor allem bei den jüdischen Immigranten Gehör.

Es gab keine Religion in einer Ferrer-Schule, keine starren Lehr- und Unterrichtspläne, keine Strafen, und es versteht sich, dass die Kinder nicht geschlagen wurden. Auf Ferrer ging der Gedanke zurück, dass man durch Experimente, durch Learning by doing, lernen könne, dass die Schule sich am spontanen Interesse der Kinder und an ihrer Neugier orientieren und die Lehrer die natürliche Entwicklung der Kinder unterstützen sollen. Auch die heutzutage verbreitete Ansicht, derzufolge Lernen ein lebenslanger Prozess sei, der niemals endet, und die Forderung an die Eltern, sich in den Schulbetrieb zu integrieren, gehen auf Ferrer zurück und wurden in den Modern Schools praktiziert: Es gab Abend- und Sonntagskurse für die Eltern. Sommercamps wurden organisiert und zahlreiche Sprachen angeboten: Deutsch, Jiddisch, Tschechisch, Italienisch, Spanisch und das bei den Anarchisten so beliebte Esperanto. Auch die Ideen, dass man ein Theaterstück auch gemeinsam aufführen kann, anstatt es zu lesen, oder mit Kindern einen Gemüsegarten anzulegen und das Geerntete selbst zuzubereiten, stammen von ihm. Doch einige der ehemaligen Stelton-Schüler geben im Rückblick Kritisches zu bedenken. So wurden die Kinder zeitweise ausschließlich vegetarisch und nur zweimal am Tag ernährt und die Schlafräume waren so kalt, dass eines der Kinder – die kleine Tochter der Vorkämpferin für Geburtenkontrolle, Margaret Sanger – eine Lungenentzündung bekam und starb.

Kälte und spärliches Essen – das war nicht allein dem Geldmangel geschuldet, dem die Stelton School in New York immerhin bis in die fünfziger Jahre hinein trotzen konnte, sondern beruhte auch auf dem Dogmatismus einiger Lehrer, der Eltern dazu brachte, ihre Kinder wieder abzumelden. Dass auch die berühmteste der Ferrer-Schulen, die Stelton School, im Jahr 1953 endgültig ihre Pforten schloss und auch die Person Francisco Ferrer in Vergessenheit geriet, war jedoch der Tatsache geschuldet, dass die Blütezeit des amerikanischen und europäischen Anarchismus lange vorbei war. Die Bewegung, die sich anlässlich des Ersten Weltkriegs zum ersten Mal gespalten hatte, da die Mehrheit Krieg grundsätzlich ablehnte, wandte sich von Kropotkin und seien Anhängern ab, die die Alliierten gegen Deutschland unterstützen wollten. Dasselbe geschah angesichts des Zweiten Weltkriegs, als die jüdischen Mitglieder der Bewegung sich bereit erklärten, Hitler auch mit der Waffe zu bekämpfen. Dazu kam: Die Kinder, die in den (mitunter auch zweifelhaften) Genuss anarchistischer Pädagogik kamen, waren die mehrsprachigen Kinder der Einwanderer aus Osteuropa. Als Erwachsene lösten sie sich von den Esperanto-Träumen ihrer Eltern, integrierten sich in die US-Gesellschaft und sandten ihre Kinder in herkömmliche Schulen. Dennoch gibt es bis heute kein Volkshochschulkonzept – Lernen von der Wiege bis zur Bahre beispielsweise –, in das die Ideen Ferrers nicht zumindest mit eingeflossen wären.

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