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Magie der Bilder

So weit und groß. Die Natur des Otto Modersohn von Carlo Modersohn

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.

Dokumentarfilme werden bekanntlich immer mehr zu Animationsfilmen. Animiert wird der Zuschauer anhand von Spielszenen, die ihn möglichst nicht in jener Vorabendserienästhetik stören sollen, die sich wie ein Virus ausbreitet – nicht nur im Fernsehen, auch im Film. Und da der Dokumentarfilm am meisten unter Verdacht steht, seine Zuschauer »überfordern« zu können, übt man sich allseits in Niveauunterbietung. Hier ist nicht der Ort nach der Legitimation derer zu fragen, die uns lieber für dumm als für klug halten (wie wird man eigentlich Redakteur im Fernsehen?), sondern die erfreuliche Ausnahme in einem offenkundig niedergehenden Genre anzukündigen. So dicht kann ein biografisches Porträt sein, so anspruchsvoll sein Inhalt und gleichzeitig so zurückhaltend seine Ästhetik! »So weit und groß – Die Natur des Otto Modersohn« von Carlo Modersohn setzt kompromisslos seine Absicht um, möglichst viel von dem zu zeigen, worin die anhaltende Faszination der Bilder Otto Modersohns besteht, welches die Widersprüche seines Lebens waren, aus denen heraus sie entstanden.

Der Satz von Rilke ist berühmt. Er schreibt in seiner »Worpswede«-Monografie von 1903, dieses Land enthalte die Sprache Otto Modersohns. Auf leuchtende Weise tief und schwer in seinen Farben wie der Torfboden rund um Worpswede. Rilkes Worpswede-Report ist auch ein wenig berüchtigt, denn er zeigt, was Rilke zu dieser Zeit sehen wollte ebenso wie das, wovor er die Augen verschloss. Eine Künstlerkolonie weitab von der Großstadt, die er bis dahin gar nicht kannte (Paris hatte er noch vor sich), ernste Männer, die sich ganz der Malerei verschrieben haben. Das stimmt zwar, aber ignoriert auf eine bereits zum Zeitpunkt des Erscheinens Befremden auslösende Weise, dass es auch zwei Frauen in der Kolonie gab: Paula Becker und Clara Westhoff, mit beiden war Rilke eng verbunden. In Paula war er wohl ziemlich verliebt, in Clara weniger, was ihn nicht daran hinderte, sie quasi im Affekt zu heiraten, als Paula den viel älteren Otto Modersohn heiratet. Der nahm seine Frau als Malerin sehr ernst, was man über Rilke und die von Rodin beeinflusste Bildhauerin Clara Westhoff nicht sagen kann. Nein, Rilke hat keinen Blick für den künstlerischen Rang der Arbeiten beider Frauen. Otto Modersohn blickt dann auch auf Rilke mit leichter Ironie, wenn er an Paula über Rilke und seine ebenso große wie kräftige Frau schreibt: »Wer kam da? Clara Westhoff mit ihrem Rilkchen unterm Arm.«

Wenn Rilke die beiden Frauen in seinem Worpswede-Buch einfach weglässt, macht er es sich unerlaubt einfach – Carlo Modersohn, Nachfahre des Malers, will die widerspruchsvolle Beziehung des Malerehepaars in der Art, die Natur zu sehen, dagegen nicht unterschlagen, auch nicht, dass Paula Modersohn-Becker viel weiter ging als ihr Mann. Aber was heißt dieses Weitergehen denn in Bezug auf die Kunst? Klug nimmt der Filmtitel die doppelte Bedeutung der »Natur des Otto Modersohn« auf. Es geht nicht nur um die äußere Natur als Landschaft, auch um die ureigenste Natur des Künstlers.

Paula Modersohn-Beckers revolutionäre Rolle in der europäischen Malerei ist unbestritten, ihre Bilder stehen an der Spitze der Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Otto Modersohn, der noch für Rilke allein als Maler zählte, gilt heute eher als einer, der mehr in das 19. als in das 20. Jahrhundert gehört, einer jener Freiluftmaler in der Tradition der Schule von Barbizon, ein Landschaftsbildner, der jede Form von Abstraktion strikt ablehnte. Und sich zudem sehr deutsch fühlte. Aber das ist ein viel zu einfaches Urteil, denn mit dem frühen Tod von Paula Modersohn-Becker, deren letzte Bilder er nicht mehr verstand, ist seine Entwicklung keineswegs abgeschlossen. Er ging noch fast drei Jahrzehnte lang seinen eigenen Weg hin zu einer Bildsprache, die das verborgene Wesen der Natur – der eigenen ebenso wie der um ihn herum – sichtbar machen wollte. Modersohn suchte bis zu seinem Lebensende nach immer neuen, schließlich symbolischen Ausdrucksformen. Und als nach dem ersten Ankauf eines Bildes von Vincent van Gogh durch die Bremer Kunsthalle eine Art Kulturkampf um »die deutsche Kunst« losbrach, stellte sich Otto Modersohn auf die Seite der europäischen Moderne, die in van Gogh einen ihrer Propheten sah.

Carlo Modersohns Film verzichtet auf Stimmen von heute, überhaupt auf einen erläuternden Kommentar. Er taucht ganz in die Hermetik der Zeit ein, verwebt Lebensstationen mit einer Vielzahl seiner Werke, die vom unablässigen Ringen um ein künstlerisches Bild der Natur und ihrer märchenhaft-dämonischen Abgründe erzählen. Selbstzeugnisse Otto Modersohns, das Urteil Rilkes in seiner Monografie, dessen provozierende Einseitigkeit es keineswegs um die poetische Kraft bringt, all das produziert einen selten gewordenen Zusammenklang von Bild und Sprache. Das ist um so bemerkenswerter, da Deutungen von Malerei sich sonst mehr und mehr detektivisch aufrüsten, um neue Fakten zu präsentieren (ganze Bücher werden über die Frage verfasst, wie viel von seinem Ohr sich Vincent van Gogh denn nun tatsächlich abgeschnitten habe) lauter Details, deren Marginalität eigentlich unstrittig sein sollte. Eine fatale Besserwisserei beherrscht die gegenwärtigen Art, Kunst zu betrachten. Davon ist »So weit und groß« wunderbar frei. Hier steht die entscheidende Frage im Mittelpunkt: Woher kommt die Magie der Bilder, die sie auf den Betrachter ausüben? Ein Film, der sich Atmosphäre gestattet – wie schön.

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