Sozialgerichte vor neuer Klagewelle

Nach dem Scheitern der Hartz-IV-Verhandlungen bleibt Millionen Betroffenen nur das Gericht

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Fast auf den Tag genau ein Jahr ist es nun her, dass das Bundesverfassungsgericht sein wegweisendes Hartz-IV-Urteil verkündete. Doch nach der gestrigen Sitzung des Vermittlungsausschusses ist man von einer Umsetzung des Urteils weiter entfernt denn je. Sozialverbände und LINKE raten den Betroffenen nun zur juristischen Gegenwehr. Die rund 6,5 Millionen Hartz-IV-Bezieher sollen höhere Leistungen notfalls einklagen

Berlin (ND-Lambeck/Agenturen). Am ersten Jahrestag des Karlsruher Urteils standen Koalition und Opposition mit leeren Händen da – mehr noch die 6,5 Millionen Hartz-IV-Empfänger. Am 9. Februar 2010 hatte das Bundesverfassungsgericht angemahnt, die Regelsätze neu zu berechnen und bedürftige Kinder stärker zu fördern. Kurz vor Weihnachten hatte die Opposition die Pläne der Regierung im Bundesrat gestoppt. Es folgten sieben Wochen zähen Verhandelns, in denen die Stimmung immer schlechter wurde. Jetzt ist der Bundesrat wieder am Zug – aber nicht, wie eigentlich geplant, um einen Kompromiss zu besiegeln.

Am Freitag will die Bundesregierung den Ländern ihr eigenes überarbeitetes Paket präsentieren. Demnach bleibt es bei der Regelsatzerhöhung um fünf auf 364 Euro. Den Kommunen werden aber Entlastungen in Milliardenhöhe in Aussicht gestellt, um das Bildungspaket für zwei Millionen bedürftige Kinder zu organisieren: Der Bund will die klammen Städte und Gemeinden bis 2015 um zwölf Milliarden Euro entlasten, indem er die Grundsicherung für arme Rentner übernimmt. »So ein Angebot kommt nicht wieder«, warb von der Leyen.

Schwarz-Gelb hofft daher auf einen »Umfaller« unter den Bundesländern. Die Blicke zielen auf die finanzschwachen Länder oder die schwarz-gelb-grüne Koalition im Saarland. Noch in der Nacht hatten die Hartz-IV-Unterhändler eifrigst mit ihren Parteifreunden in den Ländern telefoniert. Von der SPD lasse sich »niemand rauskaufen«, betonte Parteichef Sigmar Gabriel mit Blick auf die Offerten der Union. Auch die Grünen gaben sich zuversichtlich, dass ihre Kollegen an der Saar am Freitag nicht die Seiten wechseln. Doch Sicherheit darüber herrscht erst, wenn die Abstimmung gelaufen ist.

Im gemeinsamen Vermittlungsausschuss von Bundesrat und Bundestag kam es am Mittwoch erwartungsgemäß zu keiner Einigung. Der Ausschuss, in dem die Regierungskoalition über die Mehrheit verfügt, stimmte der Vorlage zu, die von der Leyen am Freitag im Bundestag und im Bundesrat zur Abstimmung stellen will. Mit dem Beschluss liegt ein sogenanntes unechtes Vermittlungsergebnis vor. In der Nacht waren die Verhandlungen endgültig gescheitert. Beide Seiten konnten sich nicht über die Höhe des Regelsatzes für Erwachsene und die Bezahlung von Leiharbeitern einigen.

Angesichts des Scheiterns raten Sozialverbände und Linkspartei den rund 6,5 Millionen Hartz-IV-Beziehern, Anträge auf die geplanten neuen Leistungen zu stellen und bei einer Ablehnung zu klagen. Denn die Sozialgerichte können das Urteil des Bundesverfassungsgerichts so auslegen, dass sie sich an einer der Berechnungen für ein verfassungsgemäßes Existenzminimum orientieren, die im Rahmen der Hartz-IV-Reform vom Statistischen Bundesamt, aber auch von Sozialverbänden und Juristen vorgelegt wurden. Selbst wenn sie sich an die niedrigste Berechnung halten – diejenige der Bundesregierung, die eine Erhöhung des Erwachsenen-Regelsatzes um fünf auf 364 Euro vorsieht – müssten die Sozialgerichte den Klägern mehr Geld zusprechen. Beim Bildungspaket für Kinder gilt dasselbe. Das Verfassungsgericht hat verlangt, dass Kinder nicht allein schon deshalb in ihren Bildungschancen benachteiligt sein dürfen, weil in ihren Hartz-IV-Sätzen die Mittel fehlen, etwa einen Vereinsbeitrag zu bezahlen oder Nachhilfe zu erhalten. Dies ist seit Januar das einklagbare Recht von rund zwei Millionen Kindern, deren Eltern Hartz-IV-Leistungen beziehen.

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