Die Furcht, still zu bleiben

Wie die Afghanin Malalai Joya für ihre Heimat kämpft

  • Antje Stiebitz
  • Lesedauer: 7 Min.
Malalai Joya auf der Afghanistan-Konferenz im Januar 2011 im Bundestag
Malalai Joya auf der Afghanistan-Konferenz im Januar 2011 im Bundestag

Die Begegnung mit ihr kann man nicht vergessen: Es sind ihre dunklen Augen, ihr blasses Gesicht, doch mehr noch ist es ihre Stimme. Ihr drängender Klang schildert die Nöte der Afghanen und klagt die eigenen und internationalen Politiker an. Ob es sich um afghanische Parlamentarier, den Präsidenten Hamid Karzai oder Barack Obama handelt: Die 32-jährige Sozialaktivistin Malalai Joya kritisiert jeden, der Krieg und Gewalt in Afghanistan mitverantwortet. Sie fordert das Ende der Besatzung und bittet unaufhörlich für »ihre Leute«. Die brutalen Geschichten, von denen sie berichtet, kann man nicht überhören. Aus ihrer Perspektive ist der Krieg des Westens in Afghanistan vor allem strategischen und wirtschaftlichen Interessen geschuldet, wird der Welt aber unter dem Deckmantel eines Kriegs gegen den Terrorismus und als Kampf für Menschen- und Frauenrechte präsentiert. Die Kompromisslosigkeit, mit der Joya die fundamentalistischen Taliban und Warlords anprangert, obwohl sie damit den Hass eben dieser Kräfte auf sich lenkt, ist beunruhigend. Sie sagte einmal: »Den Tod fürchte ich nicht, ich fürchte, angesichts der Ungerechtigkeit still zu bleiben.« Woher nimmt sie diesen Mut? »Die Wahrheit selbst ist genug, um Hoffnung und Mut zu bekommen«, antwortet sie im Gespräch. Deswegen bleibt die kleine, schmale Person im Gedächtnis.

Ihr Engagement wurzelt in ihrer Biografie. Joya ist gerade vier Jahre alt, als ihre Familie – durch die sowjetische Besatzung gezwungen – 1992 erst nach Iran, später nach Pakistan flieht. Sie und ihre neun Geschwister wachsen in Flüchtlingslagern auf. »Obwohl meine Familie große Entbehrungen erleiden musste«, schreibt sie in ihrer Autobiografie, »an einem fehlte es nie: an Liebe.« Ihr Vater, früher Medizinstudent, verlor im Kampf gegen die sowjetische Armee einen Fuß. Er glaubte an Menschen- und Frauenrechte und ließ ihr Raum, sich zu entwickeln. Er ermunterte sie zu lesen und sie verschlang zahllose Bücher unter anderem der iranischen Kommunistin Ashraf Dehghani, von Maxim Gorki und Bertolt Brecht. Als Neuntklässlerin begann sie in einem pakistanischen Lager, Frauen Lesen und Schreiben beizubringen. »Meine Erfahrungen in den Flüchtlingslagern lehrten mich viel über das afghanische Volk,« schreibt sie. »Mit eigenen Augen sah ich Leid und Ungerechtigkeit und lernte die Macht der Bildung kennen. Diese Erfahrungen sowie die Bücher, die ich las, beeinflussten mein Weltbild.«

Die USA brachten keine Frauenrechte

Im Jahr 1998, die Taliban hatten zwei Jahre vorher die Macht übernommen, trat sie der Organisation zur Förderung der Fähigkeiten afghanischer Frauen (OPAWC) bei und ging mit ihrer Familie zurück nach Afghanistan in die Provinz Herat. Dort begann sie, entgegen den Anordnungen der Taliban und in eine Burka gehüllt, im Untergrund Mädchen zu unterrichten.

»Nach dem 11. September 2001 sagten die USA, jetzt tragen die Frauen keine Burka mehr«, erzählt sie. »Sie verbreiteten diese schamlose Lüge, dass sie die Frauenrechte nach Afghanistan gebracht hätten.« Doch die meisten Frauen in Afghanistan würden die Burka tragen. »Diese widerliche Burka, die Unterdrückung symbolisiert, gibt den Frauen in Afghanistan heute Sicherheit und Leben«, erklärt sie mit Zorn in der Stimme. Sie berichtet von Frauen, denen Ohren und Nase abgeschnitten wurden, von Mädchen, die auf dem Schulweg mit Säure attackiert werden, und von zahllosen Vergewaltigungen. Viele Frauen bringen sich aufgrund ihrer verzweifelten Lage um. Seitdem die Amerikaner in Afghanistan sind, so Joya, habe sich die Lage der Frauen nicht verbessert. Und dann benutzten die USA und der Westen diese Zustände noch für ihre Kriegspropaganda. Die Gesellschaft, fügt sie hinzu, sei wie ein Vogel, der zwei Flügel hat: Der eine Flügel sind die Männer, der andere sind die Frauen. Sei einer der Flügel verletzt, könne der Vogel nicht fliegen. »Lasst uns dem verletzten Flügel helfen«, appelliert sie.

Nach drei Jahren in Herat als Untergrund-Lehrerin, wurde sie OPAWC-Direktorin für Westafghanistan und kehrte mit ihrer Familie in die Provinz Farah zurück, wo sie ihre ersten vier Lebensjahre verbracht hatte. Noch im gleichen Jahr, kurz nach dem 11. September, fielen die ersten amerikanischen Bomben auf Afghanistan und die Taliban zogen sich zurück. Ende 2001 bei der Petersberger Konferenz in Bonn wurden der Einsatz der ISAF-Truppen und eine Übergangsregierung unter Hamid Karzai – in der vor allem die Warlords an Macht gewannen – beschlossen.

Inmitten der Anarchie des Machtwechsels gründete die OPAWC eine Klinik für eine bessere medizinische Versorgung der Bevölkerung. Malalai Joya, gerade 25 Jahre alt, leitete die Einrichtung, vom örtlichen Gouverneur kritisch beäugt, aber mit großer Resonanz aus der Bevölkerung. Ihre Arbeit konfrontierte sie mit Armut, Gewalt und Tod. Sie entschied sich kurzerhand, für die Loja Dschirga (Große Ratsversammlung) zu kandidieren – um die Stimmen derer, die sie täglich betreut, hörbar zu machen. Sie fand die nötige Unterstützung im Volk und fuhr als jüngste Delegierte nach Kabul.

Der 17. September 2003 ist ein denkwürdiger Tag: Sie hält in der Loja Dschirga eine Rede, in der sie die anwesenden Warlords öffentlich kritisiert und sie für die Lage des Landes verantwortlich macht. Sie bezeichnet sie als frauenfeindlich und als Verbrecher, die vor Gericht gehören. Man wirft sie aus der Versammlung und von nun an hat sie mächtige Feinde: Sie ist nirgends mehr sicher, wird bewacht und wechselt ständig ihren Aufenthaltsort. Viermal wurden Anschläge auf ihr Leben verübt. Doch sie erfährt auch viel Zuspruch von ihren Anhängern. »Dass ich noch lebe, ist Zufall«, sagt sie im Gespräch mit ND, »und liegt auch daran, dass ich so viel Unterstützung von meinen Leuten erfahre. Die Warlords haben oft geplant, mich umzubringen, aber ich habe meistens von den Leuten um mich herum davon erfahren.« Nationale und internationale Medien berichteten über ihre Rede und in kurzer Zeit wurde sie als »mutigste Frau Afghanistans« (BBC) bekannt.

Im September 2005 entscheidet sich Joya, als Unabhängige bei den Parlamentswahlen zu kandidieren. Im März vorher heiratet sie noch, ohne viel Aufwand und nur mit der Zusage, dass sie weiterhin die nötige Bewegungsfreiheit für ihr politisches Engagement behält. Der Wahlkampf verlangt ihr viel ab: »Wie jeder andere auch bin ich manchmal erschöpft und habe Angst«, schreibt sie über diese Zeit. Sie erringt als jüngste Abgeordnete einen Parlamentssitz in der Wolesi Dschirga (Unterhaus).

Ihre Zeit im Parlament charakterisiert Joya selbst als »einsam und anstrengend«. Sie kritisiert die Warlords, sobald sich eine Gelegenheit dazu ergibt. Das geht nicht lange gut: Als sie das Parlament mit einem Zoo vergleicht, wird sie suspendiert. Wieder bekommt sie viel Beistand. Doch auch Demonstrationen und Protestmails bringen den Parlamentssitz nicht zurück.

Häufig wird ihr geraten, kompromissbereiter zu sein. Gegenüber einer italienischen Journalistin erklärte sie, dass sie an dem Tag, an dem sie mit ihren Feinden Kompromisse machen würde, vielleicht nicht mehr in Gefahr wäre, aber für das afghanische Volk eine Verräterin wäre. Und ohne das Volk sei sie nichts.

Doch durch den Ausschluss aus dem Parlament verhalfen ihr die Fundamentalisten zu weiterer Popularität. Sie wird nach Europa, Asien, Australien und Nordamerika eingeladen und spricht überall über ihre Anliegen: Sie schildert die Lage der Afghanen, fordert den Abzug der Besatzungstruppen und tritt für eine demokratische und säkulare Politik ein. Sie fordert das Recht auf freie Meinungsäußerung in Afghanistan, verlangt ein realistischeres Bild Afghanistans in den westlichen Medien.

Unterstützung der extremsten Kräfte

Joya macht für den heutigen Zustand des Landes die Politik der Großmächte verantwortlich, die stets die extremsten Kräfte der Gesellschaft unterstützten. Doch sie vertraut auf die Jugend, die aufgrund der tragischen Situation stark politisiert sei. »Wenn uns die USA und die NATO in Frieden lassen«, sagt sie im Gespräch überzeugt, »dann werden wir wissen, was wir mit unserem Schicksal machen.« Ihre Vision beschränkt sich nicht auf Afghanistan: Ihr schwebt eine solidarische Vereinigung aller demokratisch denkenden Menschen vor – weltweit.

Ihre radikale und gleichzeitig versöhnliche Sicht auf eine humanitäre Katastrophe ist beeindruckend. Als Zuhörer aus einem Land, das am Krieg beteiligt ist, spürt man Scham und Hilflosigkeit. Auch deswegen vergisst man Malalai Joya nicht.

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