GAU in Fukushima

Schwere Havarien in fünf von zehn Blöcken der zwei japanischen Atomkraftwerkkomplexe

  • Reimar Paul
  • Lesedauer: 4 Min.
Reaktorexplosion, Kernschmelze, unkontrollierter Druckanstieg – es ist wohl der schwerste Unfall in einem Atomkraftwerk seit der Katastrophe von Tschernobyl. Experten befürchten, dass die Ereignisse im japanischen AKW Fukushima diese noch in den Schatten stellen könnten.

Der Kernkraftwerkspark bei Fukushima rund 250 Kilometer nördlich von Tokio zählt zu den Museumsstücken der japanischen Nuklearindustrie. Die ältesten der zehn Reaktorblöcke, die auf zwei Komplexe an der Küste verteilt sind, gingen vor rund 40 Jahren ans Netz und sollten spätestens 2013 oder 2014 abgeschaltet werden.

Dann kamen am Wochenende das verheerende Erdbeben und in seinem Gefolge der Tsunami, wodurch die Stromversorgung für die Kühlsysteme in den Siedewasserreaktoren ausfiel. Zwar sprangen zunächst Dieselgeneratoren an, doch auch diese fielen nach Kurzem aus – wahrscheinlich durch den Tsunami, der in der Umgebung schwere Überschwemmungen verursachte. Am Samstag explodierte im AKW-Komplex Fukushima 1 das Reaktorgebäude von Block 1. In zwei Reaktorblöcken kam es höchstwahrscheinlich zu Kernschmelzen. In einem dritten Block stieg der Druck am Sonntagnachmittag unkontrolliert an, auch dort drohte eine Kernschmelze. Im Kraftwerk Fukushima 2, zehn Kilometer entfernt, waren drei Reaktoren stark überhitzt. Insgesamt wurden fünf Reaktoren des Atomkomplexes schwer beschädigt. Wie viel radioaktive Strahlung freigesetzt wurde, war zunächst noch nicht einmal ansatzweise abzusehen. Die japanische Regierung korrigierte die Zahl der verstrahlten und evakuierten Personen fast stündlich nach oben. Bis gestern Nachmittag waren aus einem Gebiet von 20 Kilometern um das Kernkraftwerk rund 210 000 Menschen in Sicherheit gebracht.

Ein Schmelzen des Reaktorkerns gilt als der größte anzunehmende Unfall in einem Atomkraftwerk, als GAU. Weil sie nicht mehr ausreichend gekühlt werden können, erhitzen sich die aus Uran oder Plutonium und ihren Spaltprodukten bestehenden Brennstäbe so sehr, dass sie schmelzen und miteinander »verbacken«. Die hochradioaktive geschmolzene Masse kann sich durch den Boden oder die Wände des Reaktors fressen und an die Umwelt gelangen. Weil das im Reaktorkern verbliebene Wasser in Folge der Hitze zu Dampf verkocht, besteht gleichzeitig erhöhte Explosionsgefahr.

Die Folgen wären in jedem Fall verheerend: Der Reaktorinhalt besteht unter anderem aus hochradioaktivem Uran sowie dem extrem strahlenden, hochgiftigen Plutonium – einem der gefährlichsten bekannten Stoffe. Hinzu kommen weitere radioaktive Isotope wie Cäsium 137, das sich während des Reaktorbetriebs in Inneren der Meiler bildet. Verschiedene Schutzvorrichtungen sollen solch ein extremes Szenario verhindern. Der Reaktor selbst ist in ein metallenes Druckgefäß eingebettet. Die zweite Barriere ist das Containment aus Stahlbeton, die dritte Barriere besteht aus einer dicken Betonwand. Experten von Greenpeace und der atomkraftkritischen Ärzteorganisation IPPNW bezweifeln, dass diese Barrieren einen 1000 Grad heißen Klumpen wirksam zurückhalten können.

Regelmäßige Kühlwasserzufuhr verhindert im Normalbetrieb, dass sich die Brennstäbe über das zur Kernspaltung gewünschte Maß hinaus erwärmen. Erdbeben und Tsunami haben aber in mehreren Fukushima-Reaktoren die Kühlung unterbrochen. »Der Stromausfall führte zu einer der gefährlichsten Situationen, die ein Atomkraftwerk treffen kann«, bewerten die Wissenschaftler der US-Organisation »Union of Concerned Scientists« die Vorgänge. Schnell herbeigeschaffte Batterien waren zu schwach oder versagten ganz. Die Temperatur des Kühlwassers im Block 1 stieg auf über 100 Grad Celsius, im Gebäude ereigneten sich Explosionen, Wände und Dächer stürzten ein.

Am Samstagabend räumte ein Regierungsvertreter in Tokio erstmals die Möglichkeit einer Kernschmelze ein. Gleichzeitig begannen Techniker in einem weltweit bislang unerprobten Verfahren, mit Bor versetztes Meerwasser zu den Reaktoren zu leiten, um die Erhitzung der Brennstäbe zu verlangsamen. Am Sonntag waren die Techniker fieberhaft damit beschäftigt, eine drohende Kernschmelze in Block 3 zu verhindern. Berichten zufolge war unklar, wie viel Wasser sich noch in diesem Druckgefäß befand. Die Brennstäbe seien eine Zeitlang nicht von Wasser bedeckt gewesen, räumte ein Regierungssprecher ein. »Es kann sein, dass es eine geringe Kernschmelze gab.« Später revidierte er diese Aussage allerdings. In dem Gebäude von Block 3 habe sich, wie zuvor in Block 1, Wasserstoff angesammelt. »Wir können nicht ausschließen, dass sich im Bereich des Reaktors 3 wegen einer möglichen Ansammlung von Wasserstoff eine Explosion ereignen könnte«, sagte der Sprecher.

Gleichzeitig öffneten Experten im Kraftwerk Fukushima 2 Sicherheitsventile und ließen Dampf ab, um den Druck in drei überhitzten Reaktoren zu senken. Ein Mitarbeiter der Atomaufsichtsbehörde sagte, die Vorbereitungen für die Entlastungsaktion seien im Gange. Die Temperatur und der Druck in den Reaktoren seien »etwas hoch«.

Am Sonntagmorgen hatte die Strahlung am Reaktor 3 laut Regierung 1200 Mikrosievert erreicht; der Grenzwert liegt bei 500 Mikrosievert. Am 150 Kilometer entfernten Atomkraftwerk Onagawa in der Provinz Miyagi maßen Experten eine 400 Mal höhere Radioaktivität als normal und führten dies auf die Explosion in Fukushima vom Samstag zurück. Nach Angaben der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA haben die japanischen Behörden daher am Sonntag auch für dieses AKW den nuklearen Notfall ausgerufen. Der Betreiber erklärte, man habe die drei Reaktoren unter Kontrolle.

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