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»Manche waren einfach nicht schnell genug«

Gespräche mit Überlebenden und Helfern im Katastrophengebiet

  • Kelly Macnamara (AFP), Sendai
  • Lesedauer: 3 Min.

Miki Otomo hat den Tsunami nahe Sendai im Nordosten Japans überlebt. Die Bilder der schwarzen Flut, die Menschen, Häuser und Autos einfach mitriss, sind für immer in ihr Gedächtnis gebrannt. »Meine ältere Schwester war in einem Bus, als die Welle hinter ihnen auftauchte. Der Busfahrer sagte allen, sie sollen den Bus verlassen und laufen«, erzählt sie. »Meine Schwester rannte vor dem Wasser davon, aber manche Leute waren einfach nicht schnell genug.« Sie wurden verschlungen von den wirbelnden Wassermassen wie tausende andere, als nach dem schlimmsten Erdbeben in der Geschichte Japans ein meterhoher Tsunami über das Land rauschte.

Die dreifache Mutter selbst flüchtete vor der tödlichen Wasserwand in ihrem Auto. »Die Tsunami-Welle kam und ich packte Großvater und unseren Hund und fuhr los. Die Welle war genau hinter mir, aber ich musste ständig Slalom fahren und Hindernissen ausweichen, bis ich in Sicherheit war«, erzählt Otomo. Ihre Familie überlebte, aber ihr Haus nahe dem schwer verwüsteten Sendai wurde von der Naturkatastrophe zerstört. Deshalb campiert Otomo jetzt in einer Notunterkunft mit etwa tausend anderen Menschen.

Mehr als hundert Menschen sitzen in Decken gehüllt in der Turnhalle der Rokugo-Oberschule. Auf dem Parkplatz vor der Halle wird Trinkwasser ausgegeben. Örtliche Händler bringen Kisten mit Essen. Am Eingang zur Haupthalle stehen Schuhe ordentlich in Reih und Glied – ein Zeichen von Tradition inmitten der Katastrophe. Die Atmosphäre ist bemerkenswert ruhig und bestimmt.

Maki Kobari ist Englischlehrerin und war kurz nach der Flutkatastrophe mit ihren Kollegen zur Hilfe geeilt. Bevor am frühen Sonntagmorgen offizielle Helferteams eintrafen, versuchten sie, eine erste Nothilfe zu organisieren. Uniformierte sind jetzt nicht zu sehen, die Hilfslieferungen werden von Freiwilligen verteilt. Auf der anderen Straßenseite stehen Leute mit Kanistern Schlange, um Benzin zu kaufen. Manche sind noch immer im Schockzustand, können ihren Schrecken nicht in Worte fassen. »Manche haben ihre gesamten Familien verloren, sie haben alles verloren«, sagt Kobari.

Bis auf einen gewaltigen Riss im Parkplatz kündet rund um die Schule wenig von der völligen Verwüstung rund einen Kilometer weiter. Die Außenbezirke der Stadt sind leer, über allem liegt eine unheimliche Stille. Wie Würfel wurden Autos auf die schlammige Ödnis geworfen, eins hängt schwerfällig über einem anderen, etwa fünf Fahrzeuge sind zusammengeschoben und in einen Hof gespült. Vor einem Gebäude liegt sein abrasiertes Dach im Matsch. Auch ein Kühlschrank und ein Sofa ragen verloren aus dem Schlamm.

Rettungsteams in orangefarbenen Overalls durchsuchen riesige Schuttfelder nach Überlebenden. »Die Situation bleibt sehr schwierig«, sagt der Bürgermeister der Stadt, Emiko Okuyama. »Es gibt praktisch keine Hoffnung mehr, noch Überlebende zu finden.« Armeelastwagen und Rettungsfahrzeuge der Polizei fahren ins Katastrophengebiet. Wegen neuer Tsunami-Warnungen mussten sie jedoch am Sonntag mindestens zwei Mal umkehren.

Auch das Haus des 84-jährigen Yoichi Aizawa wurde von der Flut verwüstet. »Nach dem Erdbeben war das Haus noch okay, also dachte ich, es ist alles in Ordnung«, berichtet der alte Herr. »Aber als die Welle kam – darauf war keiner vorbereitet. Die Welle war das Schlimmste.«

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