»Brüder, versöhnt euch!«
Palästinenser demonstrierten für nationale Einheit und Annäherung von Fatah und Hamas
Seit Sonntag hat Ibrahim nichts mehr gegessen. Nun sitzt er in der gleißenden Mittagssonne am Rande des Manara-Platzes und tupft sich die blutende Nase mit einem Wattepad. »Das ist die Trockenheit«, sagt er. Eine Flasche Wasser, die ihm einer der umstehenden Demonstranten reicht, lehnt der 26-Jährige ab. Er und sechzehn weitere junge Palästinenser wollen so lange die Nahrung verweigern, bis der Bruderstreit ihrer politischen Führer beigelegt ist. Die Menge johlt.
Es sind vor allem junge Männer und Frauen, die sich an diesem Tag im Zentrum Ramallahs versammelt haben. Sie schwenken palästinensische Flaggen, skandieren lautstark im Chor. Die Szene erinnert an die Proteste in den arabischen Nachbarländern. Doch der Eindruck täuscht. Hier demonstriert kein Volk, dass seinen Führer stürzen will. Im Gegenteil: Die palästinensischen Protestler wollen versöhnen. Wen, das wird durch einen Blick auf die riesigen Plakate, die an den Fassaden der angrenzenden Häuser hängen, deutlich: Das Bild von Yassir Arafat im Bruderkuss mit dem Hamas-Gründer Scheich Yassin wird zum Symbol des Protests. Fatah und Hamas, die beiden großen zerstrittenen Palästinenser-Parteien, sollen sich einigen, so die Forderung der Demonstranten – um so gemeinsam die israelische Besatzung zu überwinden und den Weg frei zu machen für einen eigenen Staat.
»Durch unsere Politiker sind wir praktisch zu zwei Völkern geworden«, sagt Demonstrant Tamer Mansour. Seit 2006 dauert der »Konflikt der Brüder« zwischen Hamas und Fatah an, der ein Jahr später zu einer faktischen Teilung der Palästinensischen Autonomiegebiete führte. »Beide Seiten haben nur ihre Interessen im Auge. Wir fordern aber, dass sie gemeinsam etwas für die Menschen tun.« Der Wirtschaftsstudent ist Mitglied der Facebook-Gruppe, die den 15. März zum »Tag der Aussöhnung« erklärt und zu den Protesten aufgerufen hatte. Für Tamer ist dieser Zwist das größte Hindernis auf dem Weg zu einem unabhängigen Staat Palästina. »Die Versöhnung ist der erste Schritt, unser Land zu befreien«, glaubt er.
Trotz des friedlichen Grundgedankens geht es bei den Protesten nicht völlig gewaltfrei zu. Als eine Gruppe von Studenten lautstark mehr Mitbestimmungsrecht in der Politik fordert, kommt es zu einem Gerangel mit Vertretern der Fatah. »Die politischen Parteien hier wollen keine anderen Slogans zulassen, nur ihre eigenen«, beschwert sich Najwan Berekdra. »Dabei geht es uns auch um mehr Selbstbestimmung.« Der Zorn der Fatah-Anhänger richtet sich auch gegen die Hungerstreikenden. »Die sollen aufhören damit, das ist doch völlig übertrieben«, ruft einer. Najwan greift ein: Mit ihren Freundinnen setzt sich die 28-Jährige auf den Boden, um die Gruppe Hungerstreikender zu schützen und friedlich im Sitzstreik gegen das rabiate Vorgehen zu protestieren. »Und wir planen nicht zu gehen«, betont sie. Auch Tamer Mansour stellt sich auf einen längeren Kampf für die Aussöhnung ein. Der 15. März soll nur der Auftakt sein. »Nach Tunesien und Ägypten ist uns klar, dass wir hier bleiben müssen, um unsere Ziele zu erreichen«, sagt er.
Nicht nur in Ramallah, auch in dem von der Hamas kontrollierten Gazastreifen gingen Hunderte Fatah-Anhänger auf die Straße. Hier kam es jedoch zu Zusammenstößen mit Hamas-Sympathisanten, die lautstark gegen das Oslo-Abkommen und die Palästinensische Autonomiebehörde protestierten.
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