Schweigen nach dem Störfall

Linke antikapitalistische Gruppen überlassen das Atom-Thema den Grünen und verpassen damit eine Chance

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 4 Min.
Nach dem Atomunfall in Tschernobyl waren es vor allem Linke, die auf der Straße protestierten. Fast 30 Jahre später kann man von der Teilnahme an einer Anti-Atom-Demo nicht mehr auf eine grundsätzliche Systemkritik schließen. Die heutige radikale Linke hält sich heute sogar zurück mit Aufrufen zu Protesten. Zu Unrecht.

Nach dem Atomunfall im japanischen Fukushima reißen die Proteste in Deutschland nicht ab. Am Montag danach gingen spontan zehntausende Menschen gegen Atomkraft auf die Straße, eine Woche später waren es fast 150 000 in hunderten Orten. Für die Großdemonstrationen am Sonnabend mit einem massenhaften Zulauf zu rechnen. Dabei wird vor allem eines deutlich: Die Anti-AKW-Bewegung ist in unserer Gesellschaft bis weit hinein ins bürgerliche Lager angekommen. Darin unterscheidet sich das Protestgeschehen heute radikal von dem vor fast 30 Jahren unmittelbar nach der Katastrophe von Tschernobyl.

Auch wenn damals das Misstrauen gegen die Atomenergie allgemein zunahm, waren die Proteste auf der Straße doch noch eine zumeist linke und teilweise auch von Linksradikalen getragene Bewegung. Für die autonome Szene war 1986 der Kampf gegen Wackersdorf die Kampagne der Saison. Die sogenannte Pfingstschlacht dürfte zu den heftigsten militanten Auseinandersetzungen gehören, die sich Autonome und Polizei in ihrer Geschichte lieferten. Die Grünen, damals noch eine linke Partei mit Jutta Ditfurth als Bundesvorstandssprecherin, befanden sich gerade in den Flügelkämpfen zwischen »Fundis« und »Realos«. Die Anti-AKW-Bewegung war unangepasst und Teil eines antiautoritären Politikspektrums, das auch schon einmal 30 000 Personen zu einer gerichtlich verbotenen Demonstration am Wackersdorfer Bauzaun mobilisieren konnte. Um betriebs- oder volkswirtschaftliche und konsumentenorientierte Fragestellungen wie heute ging es in der energiepolitischen Debatte damals kaum. Vielmehr machte das Schlagwort vom Atomstaat die Runde und es wurde viel über Bürgerechte und die polizeiliche Repression diskutiert.

Nach Fukushima kommt der Protest der linksradikalen und autonomen Gruppen dagegen nur zögerlich in Gang. Zwar gibt es hier und da unangemeldete Mini-Demonstrationen des autonomen Spektrums. Wer aber derzeit auf die Webseiten linker und postautonomer Gruppen wie FelS, Top, ARAB oder ALB schaut, wird weder eine Stellungnahme zu den Ereignissen in Japan noch einen Demoaufruf finden. Und auch auf der Seite der Interventionistischen Linken (IL), in der sich ein Teil der Gruppen vernetzt hat, sind erst nach und nach einzelne Texte und Demotermine zu finden. Da powerten Anti-Atom-Gruppen schon seit Tagen.

Die Zurückhaltung hinsichtlich Stellungnahmen und Mobilisierung verwundert. Zum einen liegt die Kampagnentauglichkeit der aktuellen Anti-Atom-Problematik für eine antikapitalistische Politik auf der Hand: Egal ob man darin die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus ausmacht, die Verzahnung von wirtschaftlichen Interessen und staatlicher Gesetzgebung betont oder Einschränkung der Bürgerechte bei Polizeieinsätzen wie in Gorleben thematisiert. Auf der anderen Seite schien gerade seit 2009 die radikale Linke – vor allem die bewegungsorientierten IL-Gruppen – durch die Mobilisierung zum Weltklimagipfel nach Kopenhagen bei den »ökologischen Themen« angekommen zu sein. Die breite Beteiligung bei den Blockaden gegen den Castor belegt auch, dass weite Teile der radikalen Linken und der Autonomen sich zum Thema Atomenergie deutlich positionieren. Warum also die jetzige Zurückhaltung?

Bei nicht wenigen dürfte eine tiefe Skepsis gegenüber den als »verbürgerlicht« empfundenen Öko-Protesten eine Rolle spielen. Die »neue Anti-AKW-Bewegung« wurde ähnlich wie Stuttgart 21 medial zu der neuen sozialen Bewegung hochgejubelt. Für die Anti-AKW-Großdemonstration im September in Berlin wurden teure Werbeplakattafeln angemietet und auf den Rechnungen der Stromfirma Lichtblick mobilisiert. Wer heute zur täglichen Stehdemo vor das Kanzleramt geht, spielt schnell den Statisten für diverse Oppositionspolitiker, die sich medienwirksam in Szene setzen wollen. Und dann hat so mancher auch noch die Großdemonstration zur UN-Klimakonferenz in Kopenhagen in unschöner Erinnerung. Als die Polizei dort mehr als tausend Teilnehmer, die sie zum schwarzen Block erklärte, einkesselte und einer brutalen Festnahmeprozedur unterzog, fühlten sie sich im Stich gelassen vom Rest der Klimaschützer, die im Großen und Ganzen einfach weiter marschiert seien, so der Vorwurf.

Der linke Star-Philosoph Slavoj Zizek hat die Ambivalenz des Themas treffend beschrieben. Er spricht auf der einen Seite von der »Ökologie als dem neuen Opium fürs Volk«, das quasi eine Reformierung des Spätkapitalismus erst ermögliche. Gleichzeitig sieht er in der Angst vor der großen ökologischen Katastrophe eine der wichtigsten Möglichkeiten für eine linke, emanzipatorische Politik. Die Ökokatastrophe, die seiner Meinung nach so schwer vorstellbar ist wie eine Utopie, mahne, »nicht einfach im Zug der Geschichte zu fahren, sondern die Notbremse zu ziehen. Oder es endet in einer sozialen und ökologischen Katastrophe«. Das sei eine Aufforderung zum Handeln und zu grundlegenden Systemänderungen.

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