Die Charité im Stresstest

Unbefristeter Streik am Universitätsklinikum – Hunderte Pflegekräfte legten die Arbeit nieder

  • Bernd Kammer
  • Lesedauer: 3 Min.
Der »Patient Charité« wird von den Streikenden auf der Straße therapiert.
Der »Patient Charité« wird von den Streikenden auf der Straße therapiert.

Seit sechs Jahren arbeitet Maja Deinert als Schwester an der Charité, jetzt reicht es auch ihr. »In der ganzen Zeit gab es einmal eine Gehaltserhöhung von 50 Euro«, sagt sie, dafür müsse das Pflegepersonal aber immer mehr Aufgaben übernehmen, die früher Ärzte erledigt haben. »Wir arbeiten uns in Grund und Boden.«

Jetzt arbeitet Maja Deinert nicht mehr, wie viele ihrer Kolleginnen hat sie an diesem Montagmorgen im Virchowklinikum das Streikkäppi aufgesetzt und skandiert mit ihnen »300 Jahre – 300 Euro«. Etwa 300 Euro würde der kommunale Krankenhauskonzern Vivantes seinen Schwestern, Pflegern und Technikern mehr zahlen, eine Lohnerhöhung genau um diesem Betrag fordern auch die Streikenden, das entspreche dem bundesweit üblichen Tarif.

Derweil verkündet Arnim Thomaß die ersten Erfolgsmeldungen: Neurochirurgie 30 Betten geschlossen, Innere 20, dazu drei Intensivstationen. Thomaß ist Krankenpfleger und Mitglied der Streikleitung. Er schätzt, dass der Charité an ihren drei Standorten in Mitte, Wedding und Steglitz etwa 300 Betten weniger zur Verfügung stehen, knapp ein Zehntel der Kapazität. Patienten, denen es wieder gut ging, wurden entlassen, Stationen zusammengelegt, 200 planbare Operationen verschoben. »Wir unterziehen die Charité einem Stresstest«, gibt Thomaß zu. Aber ohnehin müsse die Charité in den nächsten drei Jahren 500 Betten abbauen, »da kann sie jetzt schon mal üben«.

Thomaß schätzt, dass sich 2000 der rund 10 000 Schwestern, Pfleger und technischen Mitarbeiter am ersten Streiktag beteiligt haben. Auch Rettungsstellen, Intensivstationen und Ambulanzen waren betroffen. Es sind nur etwa so viele Pflegekräfte im Einsatz wie normalerweise an Wochenenden. Gewerkschafter sprachen von massiven Einschränkungen des Klinikbetriebs. Die Ärzte streikten zwar nicht, doch könne es für Patienten ohne lebensbedrohliche Erkrankungen zu Einschränkungen und Engpässen kommen. Die Charité hat Rettungsdienste gebeten, Patienten in andere Krankenhäuser zu bringen. Damit Akutfälle behandelt werden können, schlossen beide Seiten eine Notdienstvereinbarung ab.

Für ambulante Patienten hat die Charité eine Info-Hotline (450 550 500) eingerichtet. Die mussten gestern auch im Virchow-Klinikum lange Wartezeiten in Kauf nehmen, weil beispielsweise bei der Anmeldung nur ein Platz besetzt war statt sonst zwei.

Der Streik werde so lange dauern, bis es ein verhandlungsfähiges Angebot des Arbeitgebers gebe, sagte gestern eine ver.di-Sprecherin. Bisher bietet die Charité nur 120 Euro mehr ab Dezember. Denn Europas größtes Klinikum muss sparen. Der Senat verlangt für dieses Jahr eine schwarze Null, nachdem im vergangenen das Defizit noch über 17 Millionen Euro betragen hatte. Bei diesen Tarifforderungen dürften die Sparvorgaben nur schwer umzusetzen sein, obwohl die Leitung des Klinikums durchaus Verständnis für die Streikenden zeigt. »Bei mehr als zehn Prozent Lohnrückstand zu Anderen wär ich auch wütend«, sagt der ärztliche Direktor der Charité, Ulrich Frei. »Aber wir befinden uns im Schraubstock zwischen den Interessen der Mitarbeiter und der Vorgabe der Politik, keine Verluste zu machen.«

Thomaß glaubt, dass spätestens nach einer Woche ein verhandlungsfähiges Angebot des Arbeitgebers vorliegt. Der »Patient Charité« wurde von den Streikenden gestern Nachmittag immerhin schon mal therapiert: im Krankenbett auf der Kreuzung Müller-/Seestraße. Heute folgt hier die nächste Demo.

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