Universale Geometrie

Warum unser Gehirn euklidisch denkt

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 2 Min.

Haben Menschen auch ohne Mathematikunterricht ein Grundverständnis für geometrische Zusammenhänge? Véronique Izard von der Universität Paris Descartes ist davon überzeugt. Sie und ihre Kollegen führten jetzt eine kulturübergreifende Studie durch, an der sich neben Erwachsenen aus den USA und Schülern aus Frankreich auch 30 Personen aus dem Volk der Munduruku beteiligten, das im brasilianischen Amazonas-Regenwald lebt.

Die Forscher zeigten allen Probanden auf einem Monitor zunächst verschiedene Linienpaare, von denen einige parallel zueinander verliefen, andere nicht. Die Frage dazu lautete: Schneiden sich die Linien irgendwann, wenn man sie auf beiden Seiten endlos verlängert? In einer weiteren Aufgabe musste die Größe eines Winkels in einem Dreieck geschätzt werden, von dem die beiden anderen Winkel gegeben waren. Wie Izard und ihre Kollegen im Fachblatt »PNAS« (doi: 10.1073/ pnas.1016686108) mitteilen, lösten die Munduruku 94 Prozent aller Aufgaben zur euklidischen Geometrie korrekt. Sie lagen damit etwa gleichauf mit den Probanden aus den USA und Frankreich und übertrafen diese im Einzelfall sogar. Das ist insofern bemerkenswert, als es in der Sprache der Munduruku keine Begriffe für geometrische Winkel oder Parallelen gibt und niemand irgendeine mathematische Ausbildung erhält.

Im zweiten Teil der Studie galt es, Fragen zur Geometrie gekrümmter Oberflächen zu beantworten. Diesmal schafften alle Probanden nur etwa die Hälfte der Aufgaben. Das menschliche Gehirn sei offenbar besser auf die Beherrschung ebener Flächen vorbereitet, meint Izard, die jedoch offen lässt, ob unsere geometrischen Fähigkeiten angeboren sind oder durch frühkindlich gemachte Erfahrungen geprägt werden. Wie man annehmen darf, spielen hier beide Prozesse in sich ergänzender, sprich dialektischer Weise zusammen.

Die Studie bekräftigt damit ein Grundpostulat der Evolutionären Erkenntnistheorie (EE). Danach ist die Euklidizität unseres Anschauungsraums, die Immanuel Kant als »a priori« und individuell erfahrungsunabhängig beschrieben hat, auch ein Produkt der stammesgeschichtlichen Entwicklung. Oder anders formuliert: Da der Mensch seit Jahrmillionen in einer ebenen dreidimensionalen Welt lebt, haben sich daran auch seine Erkenntnisstrukturen angepasst. Das erklärt die erstaunlichen geometrischen Fähigkeiten der Munduruku, zumal diese, wie Izard beobachtet hat, »täglich Navigationssaufgaben meistern müssen, die weitaus schwieriger sind als jene, die sich einem Stadtmenschen stellen«.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal