Indische Mädchen: Opfer des Wohlstands

Reiche und Gebildete setzen ihren Wunsch nach männlichem Nachwuchs skrupelloser durch

  • Henri Rudolph, Delhi
  • Lesedauer: 3 Min.

Je gebildeter und wohlhabender, desto rigoroser setzen indische Familien ihren Wunsch nach männlichem Nachwuchs durch. Das belegt eine von indischen und kanadischen Wissenschaftlern vorgelegte Studie, die die Geschichte von rund 250 000 Geburten in Indien analysierte. Bis 12 Millionen Mädchen, so die in der Studie enthaltene Schätzung, haben in den letzten 30 Jahren nicht das Licht der Welt erblickt. Die weiblichen Babys wurden gezielt abgetrieben. Diese Erkenntnis deckt sich mit den im April veröffentlichten ersten Ergebnissen der Volkszählung »Census 2011«. Sie weisen aus, dass das Geschlechterverhältnis zwischen Mädchen und Jungen in der Altersgruppe bis sechs Jahre noch nie so alarmierend war wie heute: Auf 1000 Jungs entfallen 914 Mädchen.

Der Trend ist nicht neu. Premierminister Manmohan Singh charakterisierte ihn schon vor Jahren als »nationale Schande« und setzte sich für eine Kampagne zur Rettung der Mädchen ein. Gebracht hat dieses Engagement offensichtlich nichts. Im Gegenteil: Die Studie der Geschichte von 250 000 Geburten enthüllt: Wider alle Erwartungen haben ein besseres Bildungsniveau, sexuelle Aufklärung, höhere Einkommen, zunehmender Wohlstand und sozialökonomischer Fortschritt nicht dazu geführt, dass die in der indischen Gesellschaft verbreitete Vorliebe für Söhne sich abgeschwächt hätte.

Gerade unter der vom Wirtschaftsboom am meisten profitierenden Mittel- und Oberschicht hat sich diese Präferenz ausgeprägt. Sie kann bis zu 200 Dollar teure Geschlechtertests per Ultraschall bezahlen, auch wenn diese seit Mitte der 1990er Jahre gesetzlich verboten sind, und bei »negativer Sachlage« eine Abtreibung vornehmen lassen. In den Medien Indiens ist »weiblicher Fötizid« zu einem festen Begriff geworden. Das Gesetz, das Geschlechtertest verhindern soll, werde missachtet, nicht durchgesetzt, stellt dazu Prof. Rajesh Kumar vom Institut für medizinische Bildung und Forschung in Chandigarh fest.

In Indien gibt es rund 40 000 registrierte Ultraschallkliniken. Das illegal betriebene Geschäft in dieser Branche wird auf mindestens 100 Millionen Dollar geschätzt. Man kann erwarten, so Prabhat Jha, der an der Studie mitwirkte, dass die Situation noch schlimmer wird, da der Wohlstand zunimmt und damit die Chancen für die Nutzung der Sexbestimmungstechnologien sowie für anschließenden weiblichen Fötizid wachsen. Wenn das erste Kind bereits ein Mädchen ist, dann folgen meist so lange Schwangerschaftsabbrüche, bis ein männlicher Nachkomme festgestellt wird. Wenn das erste Kind ein Junge ist, verschiebt sich in der Regel der Geschlechterproporz nicht. Dann wird bei nachfolgenden Geburten auch ein Mädchen akzeptiert. Die Vorliebe für Söhne besteht auch in den weniger bemittelten und armen Schichten der Bevölkerung. Aber sie können sich die moderne Technik nicht leisten. Je höher der Bildungsgrad und je reicher die Familie, desto gezielter lässt sie weibliche Nachkommen abtreiben, so die Studie.

Religion und Kultur liefern die hauptsächlichen Gründe für die »Sucht nach Söhnen«. Ein Sohn wird für religiöse Riten gebraucht. Er garantiert den Fortbestand des Familiennamens. Er wird zum Haupternährer, zum Erbe, zu einer Art von »Sozialversicherung«, weil er sich um die Altersversorgung der Eltern zu kümmern hat.

Und er sichert mit seiner Heirat eine oft opulente Mitgift der Brautseite. Die Frischvermählte hingegen verlässt das Elternhaus in der Hochzeitsnacht. Für sie muss noch eine deftige Mitgift gezahlt werden.

Der Mangel an Bräuten ist vor allem im Norden spürbar, wo es wie im Unionsstaat Haryana Orte ohne heiratsfähige Frauen gibt und man sich mit »Importen« aus anderen Landesteilen aushelfen muss. Shailaja Chandra vom Nationalen Fonds für Bevölkerungsstabilisierung warnt, dass es bei anhaltendem Verhältnis zuungunsten der Frauen zu einem schweren sozialen Ungleichgewicht, Menschenhandel und auf der Suche nach Partnerinnen zu zunehmender Gewalt kommen wird.

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