Erdogan in der Zwickmühle

Türkischer Ministerpräsident denkt laut über neue Syrien-Politik nach

  • Jan Keetman, Istanbul
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Türkei muss sich offenbar auf einen weiteren Zustrom syrischer Flüchtlinge einstellen. Entlang der Grenze warteten am Dienstag Hunderte Großfamilien aus verschiedenen Städten der nordsyrischen Provinz

Idlib auf eine Gelegenheit, ins Nachbarland zu gelangen.

Glaubt man iranischen Medien, steckt die Türkei hinter den Unruhen in Syrien. Die Nachrichtenagentur Fars interviewte einen »Experten« mit Namen Hadi Mohammadi, nach dessen Analyse Ankara den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad nur zum Schein unterstütze, um im Nahen Osten mehr Einfluss zu gewinnen.

Andererseits unterstütze die Türkei auf Anweisung aus Washington die »bewaffneten Banden«, die hinter den syrischen Unruhen stünden. Auch Press TV, ein iranischer Sender, der sich vor allem an Ausländer richtet, wusste aus »zuverlässiger Quelle«, dass der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan die Aufständischen über die Provinz Hatay mit Waffen versorge.

Damaskus ist seit 30 Jahren, trotz seines laizistischen Umgangs mit der Religion, ein enger Verbündeter Teherans. In Iran muss man der Öffentlichkeit folglich den Aufstand in Syrien erklären. Als Schuldiger muss das benachbarte NATO-Land Türkei herhalten. Doch der Vorwurf bleibt unterhalb der offiziellen Ebene, Präsident Mahmud Ahmadinedschad gratulierte Erdogan trotzdem zu seinem Wahlsieg.

In Wirklichkeit weiß man in Ankara nicht so recht, was man tun soll, und wartet erst einmal ab. Vor einigen Tagen kritisierte Erdogan das Vorgehen des syrischen Militärs in der Stadt Dschisr al-Schogur und ihrer Umgebung nahe der türkischen Grenze scharf. Doch die Legitimität der Herrschaft Assads stellte er nicht in Frage. Er selbst hatte ihn noch im Februar als seinen »Bruder« bezeichnet.

Syrien revanchierte sich und richtete eine spezielle Telefonverbindung zum türkischen Generalstab ein. Auf diesem Weg erhält Syrien Informationen über Kurden aus der Türkei, die als Anhänger der dort verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) nach Syrien geflohen sind. Auf türkischen Wunsch werden sie verhaftet und an die Türkei ausgeliefert.

Doch wenn Erdogan den behaupteten Massakern im Nachbarland einfach zusähe, müsste er um sein Ansehen im Westen fürchten. Darüber hinaus sind viele seiner einheimischen islamischen Unterstützer wegen der Trennung von Religion und Staat in Syrien strikte Gegner Assads. In diesem Zusammenhang erinnern sie auch an das Massaker in der syrischen Großstadt Hama, das Hafiz al-Assad, Vater und Vorgänger des jetzigen Präsidenten, nach einem bewaffneten Aufstand der Muslimbrüder dort anrichten ließ.

Der Druck auf Erdogan würde sich noch erheblich erhöhen, wenn, wie anfangs erwartet, tatsächlich große Massen von Flüchtlingen über die Grenze kämen. Bis zum Dienstag waren es etwa 8500.

Die meisten Flüchtlinge werden derzeit in Lagern nahe der Grenze untergebracht, von denen sich eines auf dem Gelände einer alten Tabakfabrik befindet. Es handelt sich nach Berichten ausschließlich um sunnitische Muslime. In der Nähe der Grenze leben indes auch viele alewitische Muslime. Im gesamtsyrischen Maßstab stellen sie unter den Muslimen eine kleine Minderheit dar – allerdings eine recht machtvolle, denn Assad gehört zu ihnen. Folglich gelten die Alewiten als Stützen des Staates. Daher besteht die Gefahr, dass der Aufstand gegen Assad in einen Krieg zwischen den Religionsgemeinschaften mündet. Die christlichen Minderheiten dürften davon nicht verschont bleiben.

Ein Politikwechsel Ankaras in Bezug auf Syrien ist bislang nicht zu beobachten. Jedoch hatte Erdogan in seine Rede nach dem Wahlerfolg seiner Partei am Sonntag einen in diese Richtung ausdeutbaren Satz eingeflochten: »Dies ist auch ein Sieg für Beirut, Damaskus, Jerusalem und das Westjordanland.«

Ein Teil dieses Satzes entspricht Erdogans harter Haltung gegen Israel. Aber warum hat er Jerusalem in einem Atemzug mit Damaskus genannt? Vielleicht gibt es in Erdogans Kopf bereits einen Plan, den Nachbarn Assad fallen zu lassen.

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