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Erbe der Durchwurstel-Jahre

Aufsätze Uwe Kolbes: »Vinetas Archive« – fortdauernde Hinkehr zu einem toten Land?

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Autor steht in diesen Essays wie vor einem besonderen Spiegel: Dieser kann anzeigen, wie ein Mensch sich zu entfernen sucht – von sich selber, von dem, der er war. Eine natürliche Bewegungsart, wenn man endlich etwas hinter sich hat: Verkrümmungen und Einengungen, »Durchwurstel-Jahre« im »Dreibuchstabenland« DDR.

Uwe Kolbe steht also, schreibend, wie vor einem Spiegel, aber diese Entfernung von sich selbst, dieser endgültige Abschied von dem, was einem nicht weiter hartnäckig ankleben möge vom »alten, platten Schweigen« im unfreien System – diese Entfernung gelingt nicht. Abschiedsehrgeiz fördert neue Annäherungen zutage; diese Annäherungen wiederum rufen in ihm erneut jene »lähmende Art« wach, mit der die Diktatur den Betroffenen prägte und ihm eine »schäbige Lebensgeschichte« schuf. Die angeblich neue Welt als Experiment, just durch Amputation jener Beweglichkeitsorgane, die ans Herz der Freiheit angeschlossen sind, zum Meister zu werden – beim Lauf der Geschichte. Aber es bewegte sich nichts, »es stand die Luft«, und der sozialistische Fortschritt bestand darin, dass alles »jeden Tag weiter das wurde, was es schon immer gewesen war«.

Erinnerung: ein Kreislauf aus hässlichem Sog und befreiender Abstoßung, immer beides gleichzeitig, ohne Fluchtweg. So, als stünde da noch immer jene kalte Einmauerungsgrenze, die ein künstlich errichtetes Land in eine Welt des Kreisverkehrs verwandelt hatte, aus der kein Abbiegen möglich war. Vineta, die versunkene Stadt – untergegangen, »weil ihre Bewohner sich für etwas Besseres hielten als den Rest der Welt«. Abkapselung, als Tugend getüncht; geschichtliche Hybris: als edel entworfen, aber als Elend gelebt – Kolbes autobiografischer Ausgangspunkt DDR. Von hier aus denkt er seine Aufsätze; die Bilder des Gewesenen ragen herüber, ungefragt eingreifend ins Panorama gegenwärtiger Erfahrungen.

Er porträtiert die »erzdeutsche« Schriftstellerin Christa Wolf, ihre »romantische Verzweiflung in und an Ostdeutschland«; er beschreibt Nähe und plötzliche Distanz zu ihrer Literatur, bei »Kassandra« nämlich, »die warme Höhle der reinen Weiblichkeit, der Rückzug in die vorpatriarchalische Welt«, das schien ihm »ein sehr schwaches und nachgetragenes Utopia«. Rückkehr dann doch wieder zu dieser Literatur, zu Wolfs Wahrhaftigkeit, »ihre Stimme besteht darauf, wie die Gefühle wirklich waren, auf ihre Weise vorsichtig, auf ihre Weise mutig, die Sprache tief geprägt von Erfahrungen und Bedingungen namens DDR«.

In »Tabu« beschreibt Kolbe seine erste Kurzreise nach Westberlin, Anfang der achtziger Jahre. Der Fünfundzwanzigjährige, in Begleitung von Leitfreund Franz Fühmann, erlebt das Jenseits und Diesseits der Grenzstelle »Tränenpalast« in der Friedrichstraße als katakombische Erfahrung; eigene, fremde, Halb-, Unter-, Traum- und Traumawelt in jagende, pochende Prosa gebracht – mitunter sollte man derartige Texte lesen, damit sich das Unheimliche der sozialistischen Vermauerungen nicht gar zu leicht in der Beteuerungsargumentation von Weltlage und Großmächtehändel verliert.

Einundzwanzig Aufsätze, Reden. So über Fühmann und Wolfgang Hilbig (schönster, härtester Text!). Kolbe durchfühlt den Maler Scheib und Robert Walser, Hölderlin spricht (da wird Essay zur Dichtung!), er bewegt sich durch Berlin. Anhand zweier Songs der »Stones« skizziert er das Teuflische und die große Blues-Einsamkeit, malt Urbilder »unsauberer, unglücklicher Liebes-Verhältnisse«, und wir erfahren, dass er bei solchen Liedern selber, heimlich, zur Gitarre greift (Musik der Jugend: eine Pubertätsmitgift »bis an den Rand des Grabes«) – Kolbe schreibt das alles in einer tief intelligenten Essayprosa, die nicht darauf zielt, den Ton sachhaltig zu belassen, er hilft dem Wort zu Ruhe und farbiger Materialität zurück.

Unbestreitbar: Dieser Lyriker, der die DDR 1987 verließ, hat, geborgen und gesichert, doch am Gefüge gelitten. Mag sich niemand dazu versteigen, eine Richtlinie ziehen zu wollen, von der ab überhaupt erst von Erleiden gesprochen werden dürfe. Kolbe, Jahrgang 1957, hat gefroren im Staat, wie man in »einem lecken Kahn« friert. In diesen Aufsätzen kann man viel lesen über »das große Beschweigen von vielerlei Feigheit (ich zeige mit vier von fünf Fingern auf mich selbst)«, er erzählt vom »Schweigen um die versoffene und abgesoffene Hoffnung, um die erwürgte Liebe, um unser utopisches Vineta«.

Da ist also durchaus ein zunächst bereitwillig angelernter Sinn gewesen für das möglicherweise Produktive, Erquickende dieser Gesellschaft. Wenn man es dann aber zu Ende gelesen hat, dieses stark wachsende Müdesein schon in der Jugend, dieses Wachbleibenkönnen einzig im Abseits, diesen Horizonttrotz im Zonalen, diese »vollkommene Verbundenheit mit der Welt in vollkommener Abgeschiedenheit von ihr« (wie es im Text über Hilbig heißt) – wenn man das also hin ans Debakel gelesen hat, dann wird einem etwas begreiflicher, als es vielleicht vor Lektüre des Buches vor Augen stand: Das rasche Versinken der DDR resultierte nicht aus dem Überraschungsangriff eines historischen Moments, es war die logische Folge eines jahrzehntelangen Sinnmoders, der in Gehirn und Gebälk der Ordnung sein stilles Werk tat. Dass dagegen die idealistisch befeuerten wie abgekühlt pragmatischen Betreiber des Ganzen aber nahezu alle, die aus tausenderlei Gründen mitmachten und mitliefen, unter die sozialistischen Bekenner einreihten, sei es nun ehrlich gemeint gewesen oder verdrängend – dies gehört zur Lebenslüge der DDR.

Kolbe gibt Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt einer jungen Intellektuellenschicht, die in der DDR heranwuchs, aber beizeiten nicht heimisch wurde. Die nur ertrug, nutzte, taktierte, wartete, nach innen floh. »Uns umgab und prägte die düstere Anwesenheit nicht verstehender oder missverstehender Menschen, mit denen wir den Alltag von Kindheit an teilten, mit denen es aber keine gemeinsame Sprache gab, obwohl das erwachende Bewusstsein sich verzweifelt mühte, verstanden zu werden.« Eine Generation der sich mutig oder auch nur mufflig Abwendenden, die nur »in Abwesenheit aufblühten«, und die sich auch heute noch nicht schämen, nach all dem Dumpf die westliche Freiheit provokativ profan an Alltäglichkeiten festzumachen, ohne dabei reflexhaft den Gessler-Hut der Kapitalismuskritik zu ziehen.

»Ich bedarf keiner gesellschaftlichen Utopie mehr«, schreibt Kolbe. Wer eine Utopie verwirkliche, halte die Zeit an. Er erinnert an Platon, für den utopische Entwürfe, »fliehende Ausmalungen perfekt verfasster, geführter und eben, man beachte: gebauter und umfriedeter Gemeinwesen« waren. Wer einmal solche Umfriedung erlebt habe, der könne nur hoffen, dass Utopien immerdar »ortlos« bleiben mögen.

In solcher Skepsis liegt der Verweis auf die besondere Aufgabe der Vernunft: sich eine selbstkritische Verfassung zu bewahren. Selbstkritisch ist Vernunft dann, wenn sie in der Lage bleibt, ihren eigenen Realitätsglauben auswechselbar zu halten, also: ihre eigenen Setzungen nicht zum verbindlichen Glauben für alle und für immer zu erklären. Kein Parteiergreifen ohne Austrittsklausel. Vorbereitet sein aufs Brüchige, wenn der beglückende Moment des Unglaubens kommt.

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