Traumhafte Zeitreise

»Midnight in Paris« von Woody Allen

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Der »Amerikaner in Paris« verkörperte einmal einen amerikanischen Traum. Eine junge Nation lässt sich von einer alten Nation verzaubern, flaniert an den spätgotischen Dämonen, die an jedem Mauervorsprung von Notre Dame lauern, vorbei zum Eifelturm und zum Moulin Rouge – atmet Geschichte ebenso wie Amüsement, Kunst und Boheme.

Das scheint lange her. Der heutige amerikanische Tourist kauft Antiquitäten für sein Haus in Malibu, weil sein Innenarchitekt nur Möbel empfiehlt, die älter sind als die Vereinigten Staaten. Der Durchschnittsamerikaner von heute lässt sich nicht mehr verzaubern, er hat ein wasserdichtes Gemüt und ist in der Regel ein bigotter Puritaner. Das klingt schon so wie aus »Midnight in Paris«. Denn einer träumt den Traum von Paris immer noch– und das ist der inzwischen fünfundsiebzigjährige Woody Allen. Seit einigen Jahren wählt er seine Drehorte mit Bedacht: Venedig, London, Barcelona, Lissabon und nun Paris. Arbeitszeit ist Lebenszeit, das weiß der bekennende New Yorker »Stadtneurotiker«.

Es lässt sich nicht übersehen, Allen reagiert immer allergischer auf jenen Typus Amerikaner (die Tea-Party-Bewegung wird sehr beiläufig faschistoid genannt), der nicht mehr von Paris träumt, sondern es am liebsten aufkaufen oder bombardieren möchte, natürlich beides auf Kredit. Das Erstaunliche nun: Dieser Film ist Allens erfolgreichster in Amerika überhaupt! Das Unbehagen in der amerikanischen Kultur, um nicht von Selbsthass zu sprechen, scheint mittlerweile einen Grad erreicht zu haben, der empfänglich für Allens Kunst der ironischen Zwischentöne geworden ist. Was liegt da näher als ein Vorwärts in die Vergangenheit, mitten hinein in die fabelhaften zwanziger Jahre von Paris, wo sich die Genies gegenseitig auf die Füße traten! Darum geht es in »Midnight in Paris«: um die Überfülle von Schöpferkraft, die sich auf einen Ort konzentriert. Allen unternimmt eine Zeitreise an den Kraftquell der modernen Kunst. Aber dieser Regisseur wäre nicht der, der er ist, wenn er da nicht einige Falltüren einbauen würde, die sich immer dann öffnen, wenn wir uns in diesem Traum – denn das ist dieser Film: ein Traumprotokoll – zu wohl zu fühlen beginnen. Bis wohin führt diese Proustsche »Suche nach der verlorenen Zeit«, wann findet die Melancholie ihre Heimat? Etwa niemals?

Gil ist Allens junger Amerikaner in Paris. Owen Wilson gibt ihm jenen verwundert ungläubigen Charme, den der junge Woody Allen besaß, jedoch ohne dessen sehr spezielle Neurosen. Gil ist Drehbuchschreiber in Hollywood und hat mit routiniert fabrizierter Durchschnittsware, die ihn selber langweilt, eine Art von Erfolg erlangt, der ihn anzuekeln beginnt. Zumindest befördert Paris solcherart läuternde Gefühle. Und die beginnen ihn schlagartig in eine andere Welt zu befördern, eine Parallelwelt aus lauter Möglichkeiten, die ihn von den Wirklichkeiten seiner künftigen Frau Inez trennt. Er könnte sich gut vorstellen, ganz hier zu leben, mit den einträglichen Drehbüchern aufzuhören und einen Roman zu schreiben! Paris macht mutig auf spezielle unamerikanische Weise. Diese Stadt ist ein poetisches Abenteuer, zumal wenn es regnet. Da wirkt sie so wunderbar unwirklich! Inez aus Kalifornien weiß gar nicht, wovon er spricht. Sie repräsentiert die Eindeutigkeiten im Leben, Dinge, die man anfassen, essen, anziehen oder wenigstens kaufen kann. Man verliert schnell etwas in Paris, Fast-Ehefrauen etwa, aber man gewinnt auch etwas.

Eines Abends, als sich Gil bei einem seiner nächtlichen Spaziergänge (Inez geht inzwischen tanzen) verirrt und am Straßenrand ausruht, hält ein Wagen neben ihm, ein Oldtimer, so scheint es – aber er ist ganz Gegenwart. Und nun stürzt Gil voran in die Vergangenheit von Paris, denn der Wagen nimmt ihn mit auf eine sehr spezielle Party. Da treffen sich die Fitzgeralds mit Hemingway, da ist Gertrude Stein (Kathy Bates), und dann laufen sie in einem irrsinnigen Tempo an ihm vorbei: Picasso, Dali, Luis Buñuel. Josefine Baker tanzt. Das muss doch ein Traum sein, das kann nicht wahr sein! Mit diesem Gesichtausdruck taucht Gil ein in die Avantgarde-Szene von gestern und heute Nacht – niemand stört sich daran. Er kommt aus der Zukunft! Natürlich, das ist für Surrealisten ganz normal.

Die Auto-Szene wiederholt sich nun jede Nacht, und Gil beginnt seinen neuen Freunden auch einige Vorschläge zu unterbreiten. Buñuel erzählt er von der Idee, einen Film zu machen über Menschen, die in einem Raum sind und da – trotz offener Türen – nicht mehr herauskommen (er wird später den Film »Der Würgeengel« genau mit diesem Sujet drehen). Aber jetzt fragt er immer nur konsterniert: Wieso kommen die da denn nicht raus? So knüpft der Film geschickt ein Netz aus lauter Zauber und alltäglichem Zufall. Und ist Genie nicht, etwas zu tun, was einem ein Gast aus einer anderen Zeit eingeflüstert hat?

Aber so einfach ist es nicht, das merkt Gil auch. Denn er ist zwar begeistert von den zwanziger Jahren, in denen es noch Geist und Größe gab, aber um ihn herum fühlen sich alle in dieser Zeit in einer Phase des Niedergangs. Zu spät geboren, das Gefühl scheint eine Krankheit zu sein, die in jeder Zeit existiert. Da ist Adriana (traumhaft: Marion Cotillard), sie war schon Braques Geliebte und die von Modigliani und gerade ist sie mit Picasso katastrophisch verbunden. Sie hasst ihre Zeit und träumt von der Belle Epoque, der Jahrhundertwende. Gil hat in Adriana, die so ganz anders als die traumlos-taffe Inez ist, sofort seine Muse erblickt und sich heillos in sie verliebt. Plötzlich geht die Zeitreise weiter: Sie finden sich tatsächlich am Tisch mit Gauguin und Toulouse Lautrec. Vincent van Gogh ist leider bereits abwesend. Adriana ist glücklich, aber wer außer ihr? Ja, die Renaissance, seufzen sie alle, da gab es noch wahre Größe!

Irgendwann muss Gil eingestehen, dass es eine recht amerikanische Unsitte ist, seine Träume so direkt verwirklicht sehen zu wollen. Wie trivial, wie unromantisch! Sich in eine andere Zeit zu träumen, das ist immer noch am anregendsten, wenn man dabei in seiner eigenen Gegenwart lebt. Woody Allen, dem bekennenden New Yorker, ist mit »Midnight in Paris« auf raffiniert-ausgeklügelte Weise einer seiner poetischsten Filme gelungen, im verblüffenden Spiel mit Realitätsebenen ähnlich virtuos wie einst »Purple Rose of Kairo«.

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